Am 2. November traf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsidenten zusammen, um über die zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben der Ampel-Koalition zu diskutieren. Im Vorfeld der Bund-Länder-Runde war es zu Spannungen gekommen, die sich überwiegend an Detailfragen festmachten und kaum auf grundsätzliche politische Differenzen zurückzuführen waren. Am Ende herrschte wieder Harmonie: Die Länderchefs stimmten dem „Abwehrschirm“ für 200 Milliarden Euro ebenso zu wie der geplanten Wohngeldreform. Auch das „Inflationsausgleichsgesetz“, Christian Lindners (FDP) Steuersenkungsprogramm für Spitzenverdiener, wurde in den Reigen der Einmütigkeit aufgenommen.
Die größte Aufmerksamkeit zog die Debatte über das „Deutschlandticket“ auf sich. Der Nachfolger des „9-Euro-Tickets“ soll 49 Euro im Monat kosten und bundesweit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gültig sein. Wann der Fahrschein kommt, ist noch ungewiss. Bund und Länder einigten sich lediglich darauf, das Ticket „schnellstmöglich einzuführen“. In den Wochen zuvor hatte es Streit über die Finanzierung gegeben. Kommunen, Gewerkschaften und Verkehrsverbände befürchteten, dass steigende Energiepreise und die Mehrkosten des „Deutschlandtickets“ zu Überlastungen und einem Abbau des Verkehrsangebots führen würden. Auch die Länder hatten deutlich mehr Geld vom Bund gefordert. Noch Ende September war man von einem zusätzlichen Finanzbedarf von 3,15 Milliarden Euro ausgegangen. Die Bundesregierung kam diesem Anliegen nur halbherzig entgegen. Im jetzt gefassten Beschluss werden die Regionalisierungsmittel um 1 Milliarde Euro pro Jahr erhöht. Außerdem soll der Ticketpreis zukünftig „dynamisiert“ werden, also steigen.
Mit dem Einknicken der Länder wiederholt sich die Geschichte des „9-Euro-Tickets“. Schon im Mai hatten sich die Ministerpräsidenten aufgelehnt und angekündigt, das Vorhaben zu blockieren, wenn nicht mehr Geld für den ÖPNV bereitgestellt würde. Im Bundesrat kam es dann zum Showdown: Der Aufstand wurde abgesagt, das Ticket beschlossen und das Problem der Nahverkehrsfinanzierung vertagt. Dass es nun immer noch nicht gelöst ist, stößt auf Kritik. Martin Burkert, der Vorsitzende der „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft“ (EVG), begrüßte das „Deutschlandticket“ zwar grundsätzlich, beklagte jedoch, dass die Mittel nicht für einen Ausgleich der gestiegenen Energiepreise ausreichen würden. Auch die „dringenden Herausforderungen Angebotsausbau, mehr Personal und mehr Fahrzeuge“ ließen sich so „nur teilweise lösen“. Bereits auf ihrem Gewerkschaftstag Mitte Oktober hatte die EVG mehr Personal und Lohnerhöhungen gefordert. Noch deutlicher wurde der „Deutsche Städtetag“. An den benötigen Ausbau von Bussen und Bahnen sei unter diesen Bedingungen „nicht zu denken“, warnte Präsident Markus Lewe: „Es droht weiter, dass Fahrpläne ausgedünnt werden müssen.“
Bei der Bundesregierung stoßen diese Sorgen auf wenig Resonanz. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte das „Deutschlandticket“ schon vor Wochen als „größte Reform des öffentlichen Personennahverkehrs, die unser Land jemals kannte“ bezeichnet. In der „Rheinischen Post“ legte er nun noch einmal nach: Menschen im ländlichen Raum würden „stark profitieren“, weil der ÖPNV dort meist viel teurer sei als in den Städten. Wie genau dieser Vorteil spürbar werden soll, wenn gar kein Bus mehr kommt, erläuterte der Minister nicht.
Das neue Ticket wird vor allem Pendlern nutzen, die bisher mit teureren Monatsfahrkarten unterwegs sind. Für Menschen mit niedrigen Einkommen und Transferleistungsempfänger ist es jedoch zu teuer. Die im „Hartz IV“-Regelsatz, aber auch beim neuen „Bürgergeld“ für Mobilität vorgesehenen Summen liegen jeweils unter 49 Euro. Die Mehraufwendungen für das Ticket müssten sich die Betroffenen vom Rest der Existenzsicherung absparen – ein unmögliches Unterfangen in Zeiten explodierender Lebenshaltungskosten. Mehrere Sozialverbände fordern deshalb ein bundesweit gültiges Sozialticket oder einen Fahrschein für 365 Euro im Jahr.