Monopolkapitalistische Formierung geht mit Demokratieabbau einher

Deutschland sucht den Superdemokraten

Es geht um „Pluralismus, Diversität oder Meinungsfreiheit“ und gegen „Protektionismus und partiellen Nationalismus“: Auf der privat betriebenen Internetplattform „Gesichter der Demokratie“ kann man online für „Demokratie“ unterschreiben. „Mediale Aufmerksamkeit erhält die privat organisierte Initiative Gesichter der Demokratie durch mittlerweile 100 prominente Interviewpartner aus Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft – darunter Staats- und Regierungschefs, Friedensnobelpreisträger, die Chefredakteure führender Leitmedien sowie die Vorstandsvorsitzenden global agierender DAX-Konzerne.“ Vereinzelt finden sich darunter auch ein paar kritische Geister wie der Journalist Heribert Prantl, der in seinen Artikeln Grundrechteabbau, Berufsverbote oder den Verfassungsschutz kritisiert. Den Ton geben allerdings andere an. Der Chef der „Münchner Sicherheitskonferenz“, Christoph Heusgen, präsentiert die Kriegstreiberveranstaltung als Dienst an Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), wirbt für den Ausbau der Befugnisse seines Amtes. Die „Gesichter der Demokratie“ sind offenbar gerade diejenigen, die am allereifrigsten dabei sind, die Demokratie zu untergraben, indem sie Überwachung, Einschränkung von demokratischen Rechten oder erweiterte Rechte für staatliche Behörden fordern.

Demokratiebegriff und Klassenfrage

Die Beispiele zeigen, wie umkämpft der Begriff „Demokratie“ ist: Dem Staat dient er als Schlagwort zum Vorgehen gegen gerade die Kräfte, die sich im Namen der Demokratie gegen Überwachung, für mehr Beteiligungsmöglichkeiten oder eine andere Gesellschaft einsetzen. Das Wort ist in beiden Fällen dasselbe, aber der Inhalt des Begriffs ein anderer. Um seine vorherrschende Interpretation wird hart gerungen.

Karl Marx und Friedrich Engels bestimmten im „Kommunistischen Manifest“ als ersten Schritt der Arbeiterrevolution „die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie“. Sie knüpften dies an die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse. Denn sie wussten, dass es um die Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen anders bestellt ist: „Die demokratische Republik hebt den Gegensatz beider Klassen nicht auf, sie bietet im Gegenteil erst den Boden, worauf er ausgefochten wird“, hielt Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ fest. An anderer Stelle heißt es: „Die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus.“ Als Mittel dieser Herrschaft nannte Engels die Beamtenkorruption, die Allianz von Regierung und Börse, aber auch das allgemeine Stimmrecht. Zu Letzterem schrieb er: „Solange die unterdrückte Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht reif ist zu seiner Selbstbefreiung, so lange wird sie, der Mehrzahl nach, die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche erkennen.“

Gerade das Bewusstsein der vermeintlichen Alternativlosigkeit und die damit einhergehende Zustimmung müssen immer wieder neu hergestellt werden. Die Integration ins kapitalistische Herrschaftssystem lässt sich mit dem Politikwissenschaftler Reinhard Opitz als „Formierung“ bezeichnen – die Gewinnung der Bevölkerung für ein System, das ihren objektiven Interessen widerspricht. In einer Gesellschaft, die auf das Profitinteresse einiger weniger ausgerichtet ist und damit dem der großen Mehrheit entgegensteht, muss der Staat die Zustimmung breiter Bevölkerungsteile erreichen und – wo nötig – die bestehenden Verhältnisse durch Gewalt aufrechterhalten. Der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci brachte das auf die treffende Kurzformel, der Staat sei „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Er betonte, dass dieser umso effizienter funktioniere, je stärker der Zwang in den Hintergrund träte oder dem „Konsens der Massen“ entspräche und diese „die eigenen Gewohnheiten, den eigenen Willen, die eigenen Überzeugungen“ in Übereinstimmung mit den Leitlinien und Zielen der Herrschenden veränderten. Je mehr die Bevölkerung für die herrschende Politik gewonnen werden kann, desto stabiler ist die Herrschaft, gerade wenn es gelingt, auch die Zwangsmaßnahmen als legitim zu verkaufen.

Damit diese mitgetragen werden, müssen sie auf ideologischer Ebene begleitet werden: Einerseits muss gesetzt werden, gegen wen es vorzugehen gilt, also gegen wen die Maßnahmen berechtigterweise eingesetzt werden dürfen. Andererseits geht es um die Legitimierung der Maßnahmen selbst, also darum, welche Schritte wann gerechtfertigt sind. Das macht gerade die Demokratiefrage zu einer entscheidenden. Deren Verständnis legt schließlich fest, gegen wen aus gesellschaftlicher Sicht welche Art von Zwang ausgeübt werden darf, um die Demokratie zu schützen.

Die Legitimation der Zwangsmaßnahmen ist insbesondere dann notwendig, wenn Widersprüche offensichtlicher werden, etwa wenn Krisenkosten auf die Bevölkerung abgewälzt werden müssen oder diese die Ausgaben für Rüstung und die Folgen von Wirtschaftssanktionen tragen soll und der Staat es deswegen für notwendig hält, repressive Maßnahmen zu verschärfen. Diese werden auch dann präventiv beschlossen, wenn das Protestpotenzial noch gar keine nennenswerte Größe erreicht hat, wie die vor einiger Zeit verschärften Polizeigesetze belegen. Im Zusammenhang von drohendem Sozialabbau, dem steigenden Protestpotenzial, Repression und der dadurch erhöhten Notwendigkeit der Legitimation zeigt sich, dass der reaktionäre Staatsumbau mit dem verstärkten Bemühen um die Deutungshoheit in den Bereichen einhergeht, die für die Durchsetzung der staatlichen Maßnahmen relevant sind – und dazu gehört eben gerade der Demokratiebegriff.

Erhards „Formierte Gesellschaft“

Will man den Zusammenhang zwischen Formierung und Demokratieverständnis besser verstehen, hilft ein Blick zurück. Denn auch wenn Opitz die Begriffe der Integration und Formierung für die marxistische Theoriebildung fruchtbar gemacht hat, ist der Begriff der formierten Gesellschaft alles andere als marxistisch: Er geht zurück auf das Programm, das Bundeskanzler Ludwig Erhard in den 1960er-Jahren propagierte. Opitz lieferte in zwei Aufsätzen eine prägnante Kritik, die breit rezipiert wurde. Das Programm sollte dazu dienen, die Wirtschaftsleistung der BRD zu stärken sowie deren außenpolitische Interessen besser durchsetzen zu können. Dies sollte durch verstärkte Aufrüstung, aber auch Einflussnahme geschehen, etwa durch finanzielle Unterstützung für Verbündete. Dafür brauchte es – wie die CDU erkannte – vor allem „Geld, Geld und nochmals Geld“. Gleichzeitig hatte die Regierung in Bonn erkannt, dass eine stärkere Rolle der BRD in der Welt der innenpolitischen Zustimmung bedurfte. Opitz zitierte den damaligen Berater Erhards, Rüdiger Altmann: „Die Schwäche unserer gegenwärtigen Außenpolitik liegt nicht in der äußeren Schwäche der Bundesrepublik. Sie ist ein Ergebnis unserer inneren Entwicklung.“

Um dieses Programm realisieren zu können, sollten alle gesellschaftlichen Gruppen im Inneren gebündelt werden. Erhard und seine Berater proklamierten deshalb, dass sich alle dem „Gemeinwohl“ unterzuordnen hätten. Formierte Gesellschaft heiße, „dass diese nicht mehr aus Klassen und Gruppen besteht, die einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen“. Opitz fragte zu Recht, ob das nicht arg nach Volksgemeinschaft klinge. Dass diese vermeintliche Klassenneutralität dazu dient, die Interessen einer Klasse durchzusetzen, muss kaum extra betont werden. Die Person Altmann etwa macht deutlich, in wessen Interesse das Formierungsprogramm stattfinden sollte, war er doch Geschäftsführer des Industrie- und Handelstages. So zielte das Programm darauf ab, die Forderungen der Industrie zu erfüllen, also die öffentlichen Ausgaben zu senken, zu privatisieren und auch staatliche Bereiche nach privatwirtschaftlichen Interessen auszurichten, den Einfluss der Gewerkschaften zurückzudrängen sowie Steuer- und Finanzreformen durchzuführen, welche die Kapitalakkumulation erleichtern und Alleingänge der Bundesländer in Sachen Sozialpolitik erschweren sollten.

Formierung – als historisches Programm wie auch in ihrer aktuellen Form – geht mit Demokratieabbau einher. Die Notstandsgesetze bildeten einen entscheidenden Schritt bei der Durchsetzung der formierten Gesellschaft. Im Gespräch mit Opitz formulierte Altmann offen, dass er nicht verstehe, warum dieser sich so um den Parlamentarismus und Pluralismus sorge. Ein Vereintes Europa und ein einheitlicher atlantischer Raum, wie solle das denn funktionieren, wenn es überall nationale Parlamente gäbe. Je großräumiger die Politik werde, desto wichtiger würden wieder die Regierungen. Ein solches Programm wirft selbst den fortschrittlich-liberalen Staatsbegriff über Bord, demzufolge der Staat durch die Gesellschaft überhaupt erst seine Legitimität erhält. Ersetzt wird er durch ein konservatives Staatsverständnis, wonach der Staat der Gesellschaft gegenübersteht und die Regierung die Bevölkerung auf Kurs zu bringen hat. Jürgen Lloyd hat in dieser Zeitung bereits auf die Problematik der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ aufmerksam gemacht und betont, dass auch diese im hier genannten Sinne nicht mehr von einem liberalen Staatsverständnis gedeckt sei (siehe UZ vom 1. April 2022). Hinzuzufügen ist sicherlich der Versuch, in Brandenburg einen neuen „Radikalenerlass“ – in Gesetzesform – durchzusetzen.

Es ist folgerichtig, dass Erhard in seiner Regierungserklärung als Voraussetzung für die formierte Gesellschaft die „informierte Gesellschaft“ benannte: Die wesentlichen ideologischen Linien müssen schließlich vermittelt werden und gesetzt sein, etwa dass das Gemeinwohl Wirtschaftswachstum bedeute, da dieses letztlich allen zugutekäme. Dazu gehört dann auch die Nutzung moderner Medien, aber eben auch die Schaffung eines entsprechenden Narrativs. Bereits Opitz setzte sich mit der Rolle der Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus in der Strategie der CDU auseinander und bezeichnete sie als „strategisches Kernstück der besonderen Integrations- und Mobilisierungskonzeption“.

Antikommunismus in der BRD

Erhard stieß mit diesem Programm auf viel Kritik, seine Kanzlerschaft fand kurze Zeit später ein jähes Ende. Die Notstandsgesetze wurden zwei Jahre später trotzdem beschlossen. Ihnen gingen andere Maßnahmen zur Formierung voraus, weitere sollten folgen. In der BRD hat der Staat es immer wieder versucht und geschafft, die Messlatte dafür zu senken, was an Einschränkungen demokratischer Rechte geduldet wird – man denke an das Verbot der Volksbefragung gegen die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze oder den „Radikalenerlass“. Politische Bewegungen, etwa gegen Faschismus oder für Frieden, wurden und werden diffamiert. Antikommunismus hat dabei immer eine große Rolle gespielt – nicht selten wurden diese Bewegungen als kommunistisch unterwandert und „Fünfte Kolonne Moskaus“ verunglimpft. Darin reihten sich dann Verbotsversuche wie gegenüber der damaligen VVN in ihrer Gründungsphase ein.

Grundlegend neu ist an den Maßnahmen, die wir heute erleben, also nichts. Geändert hat sich jedoch das Kräfteverhältnis, unter dem diese Entwicklung stattfindet: Mit dem Ende der DDR, die in Tarifverhandlungen noch als „dritter Verhandlungspartner“ betrachtet worden war, fiel in Deutschland die Systemkonkurrenz weg. Sozialistische Vorstellungen sind seitdem deutlich weniger wahrnehmbar, klassenbewusste Positionen innerhalb der Linken kaum noch vorhanden. Das wiederum verschiebt die Auseinandersetzung auf ideologischer Ebene. Einer Auseinandersetzung mit marxistischen Argumenten etwa war lange nicht aus dem Weg zu gehen, so dass die von Engels benannte vermeintliche Alternativlosigkeit zum bestehenden System nicht unhinterfragt blieb. Die veränderte Grundlage der Diskussion ermöglicht wiederum neue Vorstöße zu einem weiter eingeschränkten Demokratieverständnis, denn die Stimmen, die dieses kritisieren, sind kaum vernehmbar. Gerade aufgrund dessen sind auch heute antikommunistische Maßnahmen nicht zu unterschätzen. Wenn die „junge Welt“ vom Verfassungsschutz beobachtet wird oder die Beteiligung der DKP an der Bundestagswahl auf administrativem Weg zu verhindern versucht wird, wenn mit absurden Begründungen Sowjetfahnen am 8. Mai verboten werden und das Thälmann-Denkmal eingeschmolzen werden soll, führt dies dazu, dass Kräfte eingeschüchtert und kriminalisiert werden, welche die Alternativlosigkeit infrage stellen. In der Legitimation solcher Maßnahmen treten dann Initiativen wie „Gesichter der Demokratie“ auf den Plan.

In der kommenden Ausgabe beleuchtet Kurt Baumann die soziale Seite der Formierungspolitik.

*Alle Zitate der „Gesichter der Demokratie“ entnommen aus Interviews auf faces-of-democracy.org

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"Deutschland sucht den Superdemokraten", UZ vom 17. Juni 2022



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