Die Bundesregierung will ihre Zusammenarbeit mit dem neoliberal gewendeten Argentinien intensivieren und zielt auf die systematische Stärkung transatlantischer Positionen in Lateinamerika. Wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der vergangenen Woche bei seinem Besuch in Buenos Aires erklärte, wolle er dazu das „neue Momentum“ nach dem Amtsantritt des umstrittenen Staatspräsidenten Mauricio Macri nutzen. Die politische Entwicklung in Südamerika verheißt Berlin neue Chancen – nicht zuletzt im gemeinsam mit Washington geführten Einflusskampf gegen China.
In Argentinien hat seit dem 10. Dezember 2015 mit Mauricio Macri ein rechtsliberaler Angehöriger der reichen Eliten das Amt des Staatspräsidenten inne. Macri krempelt das Land weitreichend um. So hat er Ende April Forderungen von US-Hedgefonds erfüllt, die seine Amtsvorgängerin Cristina Kirchner stets zurückgewiesen hatte, und ihnen 6,2 Milliarden US-Dollar überwiesen. Finanziert wird dies durch Kredite, die nun der argentinische Steuerzahler tragen muss. Gleichzeitig sind Subventionen gestrichen worden, die der Bevölkerung zugute kamen; dadurch sind die
will Freihandel mit dem Mercosur.
Strompreise um bis zu 700 Prozent, die Preise für Leitungswasser um 500 Prozent, für Gas um 300 Prozent sowie für den öffentlichen Nahverkehr um bis zu 100 Prozent gestiegen. Allein in den ersten vier Monaten von Macris Amtszeit sind mehr als 140 000 Angestellte staatlicher Behörden oder privater Unternehmen entlassen worden. Mitte Mai hat das Parlament ein „Eilgesetz für Arbeit“ verabschiedet, das die Massenentlassungen ein halbes Jahr lang stoppen soll; Macri hat es sofort mit einem Veto außer Kraft gesetzt. Ende April demonstrierten landesweit mehr als 350 000 Menschen gegen die neoliberale Regierungspolitik; Mitte Mai gingen über 60 000 Studierende und Dozenten staatlicher Hochschulen auf die Straße.
Macri unterstützt die Bemühungen um den Abschluss eines EU-Freihandelsabkommens mit dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur, an dem vor allem die deutsche Exportindustrie ein starkes Interesse hat. Die EU und der Mercosur haben am 8. April die Freihandelsgespräche wieder aufgenommen und am 11. Mai neue Vorschläge ausgetauscht. Die Mercosur-Kernländer hätten inzwischen „ein nachhaltiges Interesse an einem Verhandlungsabschluss“, urteilt die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Mit Blick auf etwaige Widerstände, die vom Mercosur-Mitglied Venezuela zu erwarten sind, empfiehlt die SWP, bei Bedarf auf eine Spaltung des Bündnisses zu setzen: Venezuela sei von einer Freihandelsvereinbarung „gegebenenfalls auszunehmen“. Die Pläne für ein Freihandelsabkommen der EU mit dem Mercosur spielten auch beim aktuellen Argentinien-Besuch von Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Rolle.
von Lula und Rousseff funktioniert nicht mehr.
Macri orientiert Argentinien auch außenpolitisch völlig neu. Die Neuausrichtung veranlasst Berlin, nun auch seinerseits wieder enger mit Buenos Aires zusammenzuarbeiten. Anfang Februar forderte die Staatsministerin im Auswärtigen Amt Maria Böhmer bei einem Aufenthalt in Argentinien, das Land solle nach Macris Amtsantritt „an Gemeinsamkeiten mit Deutschland, Europa und der Welt anknüpfen“. Nach Steinmeiers Besuch in Argentinien wird für Anfang Juli ein Besuch des argentinischen Staatspräsidenten in Berlin angekündigt. Die Zusammenarbeit mit dem gewendeten Argentinien, das seinerseits die Militärkooperation mit den Vereinigten Staaten wieder aufgenommen hat, wird intensiviert.
Dabei ist die neue Nähe zu Buenos Aires Teil umfassenderer Bemühungen Berlins, die Kooperation mit denjenigen lateinamerikanischen Staaten auszubauen, die nicht gegen die transatlantische Hegemonie opponieren, sondern bereit sind, sich ihr unterzuordnen. Im vergangenen Jahr hat Steinmeier mit Peru und Kolumbien zwei Staaten der Pazifikallianz besucht und sich um die Intensivierung der bilateralen Beziehungen bemüht. Im April dieses Jahres hat Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto sich in Berlin aufgehalten und dort ebenfalls neue Kooperationsschritte eingeleitet. Die Bundesregierung will sogar die militärischen Beziehungen zu Peru, Kolumbien und Mexiko ausbauen. Außenminister Steinmeier wird nach seinem Aufenthalt in Buenos Aires nach Mexiko weiterreisen. Während der mexikanische Präsident im April Deutschlands „Führungsrolle“ pries, ist sein argentinischer Amtskollege der Auffassung, Deutschland sei einer der „wichtigsten Partner“ seines Landes.
Auch in Brasilien sehen deutsche Regierungsberater nach dem kalten Putsch gegen die Präsidentin Dilma Rousseff verbesserte Chancen für die deutsch-brasilianische Kooperation. Die neue Regierung des Landes strebe eine Neuausrichtung ihrer Außenpolitik an und orientiere wieder auf die Zusammenarbeit mit den USA, heißt es in einer Analyse der SWP. Dies schaffe Raum für den Ausbau der Beziehungen zu Deutschland und der EU.
Hintergrund ist demzufolge, dass das Wachstumsmodell der Regierungen von Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff nicht mehr funktioniert und die brasilianische Wirtschaft, die dramatische Markteinbrüche verzeichnet, nun nach Alternativen sucht. Das Modell war eng mit der Außenpolitik unter Lula und Rousseff verbunden. Beide setzten zunächst darauf, Brasilien als Vormacht in Südamerika zu positionieren – „in Abgrenzung vom Einflussbereich der USA“, dem auch das NAFTA-Mitglied Mexiko sowie die Staaten Mittelamerikas zugerechnet wurden, wie die SWP in einer aktuellen Analyse schreibt. Einer der „Eckpunkte der Strategie“ war laut der SWP die Stärkung der „vom brasilianischen Ordnungsanspruch getragenen Regionalorganisation UNASUR“, einem Bündnis ausschließlich der südamerikanischen Staaten. Ließ sich dies ohne Probleme mit traditionellen Orientierungen der brasilianischen Diplomatie vereinbaren, so zielten die Mitte-links-Regierungen zudem weit über den Subkontinent hinaus: „Unter Brasiliens Führung sollte Südamerika zu einem weltpolitischen Faktor werden“, konstatiert die SWP. Mittel der Wahl war für Lula und Rousseff dabei das BRICS-Bündnis mit Russland, Indien, China und Südafrika.
Möglich war die Realisierung dieser Strategie, weil sie an ökonomische Interessen brasilianischer Konzerne anknüpfen konnte. So wurde, wie die SWP berichtet, „der unmittelbare Nachbarschaftsraum“ Brasiliens, der in dem 1991 gegründeten Wirtschaftsbündnis Mercosur zusammengeschlossen ist, als „zu klein für die Markterweiterungsstrategie der brasilianischen Großunternehmen“ eingestuft. In Lulas erster Amtszeit stiegen die Exporte vor allem nach China, mit dem Brasilien bald im Rahmen der BRICS kooperieren sollte, deutlich an; 2009 löste die Volksrepublik die Vereinigten Staaten als größtem Handelspartner Brasiliens ab. Die brasilianischen Gesamtexporte schnellten von einem Volumen von 77,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2003 auf 261 Milliarden US-Dollar 2011 in die Höhe. Die Süd-Süd-Kooperation trug dazu bei, dass Baukonzerne wie Odebrecht oder der Erdölgigant Petrobras lukrative Geschäfte in Afrika fanden; Brasiliens Ausfuhr in afrikanische Staaten stieg von 2000 bis 2010 um 400 Prozent und erreichte 2011 einen Höchstwert von 12,2 Milliarden US-Dollar.
Seitdem ist jedoch nicht nur der brasilianische Afrika-Export wieder geschrumpft; auch das Verhältnis zu China ist aus Sicht der brasilianischen Exportwirtschaft zumindest durchwachsen. Die Exporte in die Volksrepubik liegen seit 2011 zwar bei über 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr, steigen allerdings nicht mehr. Gleichzeitig beklagen brasilianische Unternehmen, Konkurrenten aus China jagten ihnen größere Marktanteile in den USA und sogar in Chile ab.
Entsprechend leitet Interimspräsident Temer einen grundlegenden Wechsel in der Außenpolitik ein. Laut der SWP bietet Brasiliens Neuorientierung nun auch Berlin und der EU die Chance, ihren Einfluss in dem Land und womöglich in ganz Lateinamerika weiter auszubauen. Die rechte Wende in Argentinien und Brasilien verheißt Berlin neue Chancen in Lateinamerika – nicht zuletzt beim Bestreben, den transatlantischen Einfluss auf dem Subkontinent gegen die weiterhin aufstrebende Volksrepublik China zu stärken.