Inge Bultschnieder lebt in Rheda-Wiedenbrück, wo Clemens Tönnies eine der größten Fleischfabriken Europas betreiben lässt. Bultschnieder gründete 2013 die „Interessengemeinschaft WerkFAIRträge“, eine lokale Initiative für die Rechte von Fleischarbeitern.
UZ: Neulich haben Sie in einem Interview gesagt: „Die Subunternehmer wissen, wie man aufmüpfige Arbeiter zur Räson bringt.“ Was haben Sie gemeint?
Inge Bultschnieder: In Gesprächen haben mir Arbeiter erzählt, dass sie Angst haben, ihren Job zu verlieren, wenn sie ein Interview geben oder wenn sie krank sind. Meine Geschichte mit den Fleischarbeitern hat damit begonnen, dass ich damals meine Bettnachbarin im Krankenhaus kennengelernt habe, Katya. Sie war im Tönnies-Werk zusammengebrochen und hat mir gesagt, sie könne nicht im Krankenhaus bleiben, weil sie Angst hatte, gefeuert zu werden. Ich habe ihr versprochen, sie bei mir aufzunehmen. Ich habe sie später noch ein paar Mal mit 40 Grad Fieber zur Arbeit gefahren, sie ist nochmal zusammengebrochen, danach hatte sie ihren Job nicht mehr.
UZ: Was bedeutet eine Entlassung für diese Menschen?
Inge Bultschnieder: Das sind Menschen aus ganz armen Verhältnissen. Mit dem wenigen Geld, das sie verdienen, müssen sie ihre Familien im Heimatland unterstützen und sich selbst ernähren. Wenn dieses Geld wegfällt, dann ist Ende: Die Wohnung ist an den Arbeitsplatz gebunden. Sie kennen sich hier nicht aus, sprechen die Sprache nicht – dann stehen sie einfach auf der Straße.
UZ: Die Arbeiter aus dem Fleischwerk können sich nicht selbst aussuchen, wo sie wohnen?
Inge Bultschnieder: Das hier ist eine Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern – hier gibt es keinen freien Wohnraum. Natürlich können sie es sich nicht aussuchen, dazu müsste erst mal ein sozialer Wohnungsbau geschaffen werden. Wenn ich ein Geschäft aufmache, muss ich nachweisen, dass ich ausreichend Parkplätze habe. Wenn ich 5.000 Leute einstelle, sollte ich auch nachweisen müssen, dass ich die unterbringen kann.
UZ: Müssen Sie aber nicht.
Inge Bultschnieder: Das ist ja das Schizophrene: Die Vorschriften sorgen dafür, dass das Auto gut untergebracht ist. Dafür, dass die Menschen gut untergebracht sind, sorgen sie nicht.
UZ: Wie wohnen die Fleischarbeiter?
Inge Bultschnieder: Mit vielen Menschen, in einer kleinen Wohnung. Hier gibt es ein Haus, das nennen die Bulgaren selbst das Geisterhaus, weil es so spooky ist. Sie zahlen nicht pro Wohnung, sondern pro Bett, 200 bis 300 Euro im Monat. Eine Bekannte von mir zahlt für ihre Wohnung 450 Euro, über ihr wohnen sechs Werkvertragsarbeiter in einer Wohnung, jeder zahlt 200 Euro für sein Bett – also 1.200 Euro für die ganze Wohnung.
UZ: 2015 hat Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit Ihnen über die Zustände in der Fleischindustrie gesprochen. Hat die Bundesregierung anschließend etwas an den Zuständen geändert?
Inge Bultschnieder: Nein. Abgesehen davon, dass die Regierung den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat, hat sich wenig spürbar verändert. Die bisherigen Initiativen haben nicht viel gebracht. Abgesehen vom Mindestlohn ist die Regierung einen Schunkelkurs mit Tönnies gefahren – nicht nur mit Tönnies, mit allen Fleischunternehmern.
Das muss man ja klar sagen: Hier vor Ort haben wir Tönnies. Aber es gibt tausende solcher Fabriken. Herr Tillmann, der frühere Geschäftsführer von Tönnies, hat mir mal gesagt: Schauen Sie doch mal zu VW, da läuft es nicht anders. Ich habe ihm gesagt: Ich wohne aber nicht in Wolfsburg – hier ist es nun einmal Tönnies.
UZ: Was müsste sich verändern?
Inge Bultschnieder: Die Gesetzgebung müsste sich ändern, der Werkvertrag muss weg. Natürlich gibt es auch ganz normale Werkverträge, aber es gibt nun einmal diese Gesetzeslücke, die von den Unternehmen ausgenutzt werden kann. Die muss als erstes geschlossen werden.
UZ: Woran liegt es, dass Werkverträge auf diese Weise ausgenutzt werden können?
Inge Bultschnieder: Ich weiß nur, dass es irgendwo eine Lücke gegeben hat, die es möglich gemacht hat, Menschen aus Osteuropa, aus armen Ländern zu holen und hier für wenig Geld einzusetzen. Das alleine ist ja schon unmoralisch – dabei waren mir solche Begriffe wie „Wirtschaftsethik“ auch mal bekannt.
UZ: Heute nicht mehr?
Inge Bultschnieder: Ethik und Moral kann ich in der Fleischbranche nicht mehr erkennen. Es ist ja auch nicht ethisch, 30.000 Schweine am Tag zu schlachten, wie hier im Tönnies-Werk. Wer soll das alles essen?
UZ: Ist es nicht merkwürdig, dass erst durch die Pandemie so viele Medien auf die Lage in der Fleischindustrie aufmerksam geworden sind?
Inge Bultschnieder: Es ist schrecklich, dass es dazu die Pandemie gebraucht hat. Viele haben schon lange auf die Zustände aufmerksam gemacht, aber im Sinne des Wirtschaftswachstums hat man darüber hinweggesehen und damit Menschenrechte verletzt.
UZ: Inwiefern Menschenrechte verletzt?
Inge Bultschnieder: Es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ist es nicht unwürdig, dass noch 2012 Arbeiter für 4,50 Euro die Stunde gekeult haben? Ich habe Menschen kennengelernt, die solche Löhne bekommen haben – das ist unwürdig. Auch jetzt halte ich den Lohn für diese harte Arbeit noch für unwürdig. Diese Leute in verschimmelten Wohnungen wohnen zu lassen, in denen sie keine Privatsphäre haben, aber 200 Euro zahlen – das ist menschenunwürdig.
UZ: Wie nehmen die osteuropäischen Kollegen die Medienaufmerksamkeit wahr?
Inge Bultschnieder: Manche haben den Eindruck, dass sich die Wut gegen sie selbst richtet. Andere nehmen die Medienberichte gar nicht wahr, sie leben in einer Parallelgesellschaft. Aber wenn nicht jemand eine laufende Kamera draufhält, erzählen sie einem, wie schrecklich das für sie ist.
UZ: Haben diese Kollegen die Hoffnung, dass sich etwas verändert?
Inge Bultschnieder: Vor allem haben sie das Ziel, aus dem Fleischwerk herauszukommen. Sie sehen das als Sprungbrett und wollen einen besseren Job in einer anderen Branche finden. Die Chance dafür ist klein, ich kenne nur eine Handvoll Leute, die das geschafft haben. Die anderen sind immer noch im Fleischwerk oder sind in ihre Heimat zurückgegangen. Ich bin selbst einmal nach Rumänien geflogen und habe dort ehemalige Fleischarbeiter getroffen, die haben mir gesagt, sie kommen nie wieder nach Deutschland, weil es so schrecklich ist.
UZ: Hat sich Ihre Arbeit der vergangenen Jahre gelohnt?
Inge Bultschnieder: Ich denke, es hat sich für jeden einzelnen gelohnt. Jetzt zum Beispiel, während die Fleischarbeiter unter Quarantäne stehen, haben wir Hilfspakete verteilt. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber man braucht viele Helfer. Und von denen haben mir dann manche gesagt: Inge, das ist ja schrecklich, wir haben das noch nie gesehen. Sie waren geschockt. Ich habe mir gedacht: Schön, dass ihr euch auf den Weg macht. Wir haben gezeigt: Wir machen das, damit ihr seht, dass wir euch sehen.
Das Bespräch führte Olaf Matthes