In der regierungslosen Zeit wird der Sozialabbau hinter belanglosem Streit versteckt

Deutschland im Vormerz

Fast über Nacht ereilte Ruth Brand ein Schicksal, das nur wenigen Spitzenbeamten zuteil wird. Die Bundeswahlleiterin war zu einer zweifelhaften Berühmtheit gelangt, nachdem sie vor einer zu frühen Neuwahl gewarnt hatte. In einem Schreiben an den Bundeskanzler hatte Brand darauf hingewiesen, dass die Kommunen mit der Durchführung einer schnellen Wahl überfordert seien und es durch verkürzte Fristen zu einer „vermehrten Nichtzulassung von Wahlvorschlägen“ kommen könnte. Zudem seien „nicht etablierte Parteien“ und die örtlichen Behörden unter erheblichem Druck, um die Sammlung und Beglaubigung von Unterstützungsunterschriften durchzuführen.

Übertriebene Sympathie für die Bundeswahlleiterin ist unangebracht. Auch dem Vorwurf, dass ihre Behörde politisch agiert, dürften linke Kräfte mit Blick auf den noch nicht so lange zurückliegenden Versuch des kalten Parteiverbots gegen die DKP etwas abgewinnen. Doch was CDU und einige bürgerliche Medien in den vergangenen Tagen rund um das Warnschreiben veranstalteten, gleich einem absurden Theaterstück. In der Diskussion spielte die Überforderung der kaputtgesparten Kommunen keine Rolle, auch nicht die geringeren Antrittschancen der kleinen Parteien. Stattdessen entzündete sich die Aufregung an einem Nebensatz, in dem Brand die Sorge geäußert hatte, dass die Beschaffung des Papiers für die Stimmzettel zum Pro­blem werden könnte.

Einen vorläufigen Höhepunkt fand der Streit zwischen Union und SPD am Dienstag mit einer Einigung auf einen Wahltermin am 23. Februar. In den kommenden Wochen werden sich die Parteien andere abseitige Streitpunkte suchen müssen, um den Wahlkampf voranzutreiben. Denn in der politischen Linie reichen die Unterschiede nicht aus. Neben Personaldebatten, Verfahrensfragen und der langsam zu Tode gerittenen Schuldenbremsendiskussion bietet sich allenfalls die Migrationspolitik an, die schon bei vergangenen Wahlen als Wettrennen der Hardliner inszeniert wurde.

Die Grünen gehen mit Robert Habeck als Kanzlerkandidat ins Rennen und setzen damit noch intensiver auf ihre kriegsbegeisterte „Realo“-Anhängerschaft. Daran ließ auch die Noch-Außenministerin Annalena Baer­bock keinen Zweifel, als sie beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ davon sprach, „dass das 2-Prozent-Ziel der NATO in unserer heutigen Lage nicht mehr ausreichen wird“. Robert Habeck forderte ein weiteres „Sondervermögen“ für die Bundeswehr noch vor der Wahl. Bei Zuwächsen von AfD und BSW müsste die Finanzierung des Krieges sonst künftig „quasi indirekt mit Putin verhandelt werden“, so Habeck.

Die CDU setzt auf Friedrich Merz und den offensiven Kampf gegen Sozialleistungen. Er sei zwar dafür, den „Sozialstaat im Kern zu erhalten“, gab Merz bekannt. Aber das Bürgergeld will er abschaffen und durch eine „neue Grundsicherung“ ersetzen. Wer „zumutbare“ Arbeiten nicht annehme, soll dann nicht mehr als bedürftig gelten. Wie die FDP steht die CDU dafür, die Kosten für Krieg und Krise direkt auf die Bevölkerung abzuwälzen, ohne einen Umweg über neue Staatsverschuldung zu nehmen.

Dazu passt, dass die Union mit dem Gedanken spielt, das Deutschlandticket auslaufen zu lassen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spielte seinen Kollegen im Bundestag den Ball zu und erklärte am Dienstag: „Es muss der Bund bezahlen. Und wenn der Bund es nicht bezahlt, dann muss es fallen.“ Der Bund zahlt allerdings nur, wenn der Bundestag das beschließt. Dafür bräuchte es voraussichtlich die Zustimmung der CDU. CDU-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei hatte schon am Tag zuvor verlauten lassen, dass seine Fraktion wahrscheinlich nicht für die Fortsetzung des Tickets stimmen werde.

Es darf erwartet werden, dass das Deutschlandticket nicht das einzige Opfer der Zeit zwischen dem Abdanken der Ampel und dem Antritt einer neuen Regierung sein wird. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) weiß, dass er mit dem fragwürdigen Amtsbonus eines verhinderten Entscheiders in die Wahl gehen wird. Er weiß aber auch, dass der soziale Kahlschlag weitergehen muss, wenn Krieg und Wirtschaftskrieg finanziert werden sollen. Praktisch, dass er nun den machtlosen „Friedenskanzler“ geben und sich folgenlos für „sozialen Ausgleich“ einsetzen kann. Auch praktisch: Die Union kann bei allen ausbleibenden Beschlüssen und den daraus folgenden Kürzungen darauf verweisen, mit der Regierung nichts zu tun zu haben. So wird die Verantwortungslosigkeit organisiert und hinter dem oberflächlichen Streit im Wahlkampf beiläufig die gemeinsame Agenda des Sozialabbaus umgesetzt.

In ihrer unvergleichlichen Art erläuterte Annalena Baer­bock jüngst: „Jetzt ist der Moment der Zwischenphase, auf den Putin immer gewartet hat.“ Wahrscheinlicher ist, dass es ihre Auftraggeber in den Konzernzentralen und Rüstungsfabriken sind, die in die bewusst geschaffene politische Lücke stoßen werden.

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"Deutschland im Vormerz", UZ vom 15. November 2024



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