Eine völkerrechtliche Expertise

Deutschland – ein Aufmarschgebiet der USA?

Gregor Schirmer

Am 20. März 2003 überfiel die von den USA geführte „Koalition der Willigen“ den Irak. Die damalige SPD-Grüne-Bundesregierung sprach sich gegen den Krieg aus, enthielt sich aber aller Schritte, die diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auch nur behindert hätten. Die Regierung zog sich auf die Behauptung zurück, sie habe dazu keine Möglichkeiten und sei im Gegenteil verpflichtet, den USA in Deutschland freie Hand zu lassen. Der vor kurzem gestorbene Völkerrechtler Gregor Schirmer erstellte die folgende Expertise im Vorfeld des Krieges für den „Kasseler Friedensratschlag“ im Dezember 2002. Wir drucken den Text – gekürzt und redaktionell bearbeitet – an dieser Stelle nach, da er wichtige Hinweise auch für heutige Auseinandersetzungen liefert. Die vollständige Version haben wir im UZ-Blog veröffentlicht.

Weder nach dem allgemeinen Völkerrecht und der UN-Charta noch nach speziellen Vertragsbeziehungen Deutschlands – multilateral im Rahmen der NATO oder bilateral im Verhältnis zu den USA – bestehen Verpflichtungen der Bundesrepublik, Aktivitäten der US-Streitkräfte auf deutschem Territorium, insbesondere die Nutzung von deren Militärstützpunkten und des deutschen Luftraums, zur Vorbereitung und Durchführung eines Militärschlags gegen den Irak zu dulden, zu genehmigen oder zu unterstützen. Das gilt unabhängig davon, ob ein solcher Militärschlag vom Sicherheitsrat genehmigt ist oder ohne eine solche Genehmigung durchgeführt wird. Es gilt selbst dann, wenn man einen Militärschlag gegen den Irak für völkerrechtlich zulässig hielte.

Der Dritte Golfkrieg
Im Vorfeld des Überfalls auf den Irak hatten die USA eine Lügenkampagne inszeniert und im UN-Sicherheitsrat angebliche „Beweise“ für Massenvernichtungswaffen im Besitz des Irak präsentiert. Gegen Völkerrecht und das mehrheitliche Veto des Sicherheitsrats wurde der Irak bombardiert und bis 2011 militärisch besetzt. In dieser Zeit begingen die Besatzungstruppen zahlreiche Kriegsverbrechen. Der Krieg destabilisierte die Region und ermöglichte den Aufstieg der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Hunderttausende starben, das Land wurde verwüstet. Bis heute unterhalten die USA Militärbasen im Irak – gegen den Willen des Volkes und der Regierung.
Die US-Konzerne sicherten sich die Kontrolle über den Großteil des vergleichsweise billig zu produzierenden irakischen Öls. Dies ermöglichte den USA, von einem Ölimporteur zu einem Ölexporteur zu werden, da der weltweit steigende Ölpreis die Fracking-Industrie rentabel machte.

Seit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags am 12. September 1990 hat Deutschland nach Artikel 7 „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“ und ist nicht mehr den bis dahin bestehenden Resten des Besatzungsrechts unterworfen. Die volle Souveränität Deutschlands schließt die vollständige und uneingeschränkte Gebietshoheit ein. Deutschland hat kraft des in der UN-Charta und gewohnheitsrechtlich verankerten völkerrechtlichen Prinzips der Souveränität das Recht und sogar die Pflicht, die Nutzung des deutschen Territoriums, von Stützpunkten auf dem Landgebiet Deutschlands und des Luftraums über Deutschland durch die Streitkräfte der USA für einen Militärschlag gegen den Irak zu untersagen.

Gewaltverbot

Ein Militärschlag der USA gegen den Irak ohne ausdrückliche Genehmigung des Sicherheitsrats wäre ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Mit dem Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung könnte ein solcher Militärschlag nicht gerechtfertigt werden. Die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts, nämlich ein bewaffneter Angriff des Irak gegen die USA oder einen anderen Staat, liegt offensichtlich nicht vor. „Präventive“ Selbstverteidigung ist völkerrechtlich unzulässig. Abgesehen davon ist auch kein Grund für eine solche „Prävention“ ersichtlich. Ein Angriff des Irak auf die USA oder einen anderen Staat – ob mit irakischen Massenvernichtungswaffen oder durch irakisch gesteuerte Akte des internationalen Terrorismus – steht offensichtlich nicht bevor.

An einem völkerrechtswidrigen Militärschlag darf sich Deutschland weder direkt noch indirekt beteiligen. Eine Beteiligung Deutschlands wäre selbst ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Bereits die Duldung von Aktivitäten zur Vorbereitung und Durchführung eines Militärschlags der USA vom Territorium Deutschlands aus wäre eine Aggressionshandlung Deutschlands. Für Deutschland kommt die spezielle Verpflichtung aus Artikel 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrags hinzu, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“.

NATO-Vertrag

Der NATO-Vertrag vom 4. April 1949 liefert keine Begründung dafür, dass Deutschland verpflichtet sein könnte, Bewegungsfreiheit für die USA-Streitkräfte auf deutschem Territorium und Überflugrechte zur Vorbereitung und Durchführung von Militärschlägen gegen den Irak zu gewährleisten. Es gibt keine Bündnisverpflichtung zur Duldung von völkerrechtswidrigen Aktionen des Bündnispartners von deutschem Territorium aus. Entgegenstehende Absprachen wären völkerrechtswidrig.

Bei aller Gegnerschaft zur NATO ist festzustellen: Ein Militärschlag der USA gegen den Irak wäre ein Bruch sogar des NATO-Vertrags. Dieser Vertrag enthält in Artikel 1 die Verpflichtung der NATO-Mitglieder, „in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist“.

Die Anwendung von Waffengewalt ist nach Artikel 5 nur zum Zweck der kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff möglich. Nur „im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs“ besteht eine Pflicht, dem Angegriffenen Beistand zu leisten, wobei jeder Staat selbst über die Art dieses Beistands entscheidet. Es handelt sich um eine Ausführungsbestimmung zum Recht auf Selbstverteidigung in Artikel 51 der Charta. Ein solcher Fall der Selbstverteidigung ist nicht gegeben.

Im Übrigen soll der angekündigte Militärschlag gar nicht von der NATO, nach deren Regeln und unter deren Oberkommando, sondern von einer ad hoc geschaffenen Koalition nach den Regeln und unter dem Oberkommando der USA durchgeführt werden. Die USA wollen sich offenbar nicht durch notwendige Abstimmungen innerhalb der NATO die Hände binden lassen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der NATO-Vertrag Deutschland zur Duldung der „Bewegungsfreiheit“ der US-Streitkräfte auf deutschem Territorium für Aktionen verpflichten soll, die sich nicht im Rahmen der NATO vollziehen.

NATO-Truppenstatut

Das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen für Aktionen der US-Streitkräfte in Deutschland regeln die Rechte und Pflichten der US-Streitkräfte im Rahmen des NATO-Vertrags, nicht aber Aktivitäten außerhalb dieses Rahmens.
Im Truppenstatut werden Fragen der Rechtsstellung der Truppen eines NATO-Staates und ihres zivilen Gefolges beim Aufenthalt in einem anderen NATO-Staat detailliert geregelt. Das betrifft Ein- und Ausreise, Gerichtsbarkeit, Steuern, Zölle, Übungen und Manöver. Das Zusatzabkommen enthält spezielle Regelungen für den Aufenthalt von NATO-Truppen in Deutschland.

Das Zusatzabkommen wurde nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands sowie in Anbetracht der Bestimmungen des Einigungsvertrags und des Zwei-plus-Vier-Vertrags überprüft und 1993 geändert. Die Bundesregierung betonte in ihrer Denkschrift zu dieser Vertragsänderung als „grundlegende Verbesserung“ die nunmehrige „Zustimmungsbedürftigkeit aller Land- und Luftübungen der Entsendestaaten außerhalb der Liegenschaften, die ihren Streitkräften zur ausschließlichen Benutzung überlassen sind“. Wenn schon Manöver und Übungen zustimmungspflichtig sind, dann umso mehr Truppenbewegungen zur Vorbereitung und Durchführung eines Militärschlags. Eine Zustimmung kann dann aber auch kraft der Souveränität Deutschlands verweigert werden und muss verweigert werden, wenn dies völkerrechtlich und verfassungsrechtlich geboten ist.

Als „grundlegende Verbesserung“ wird ferner die „grundsätzliche Geltung des deutschen Rechts“ auch auf den Liegenschaften der Entsendestaaten herausgestellt. Zu den wesentlichsten Bestimmungen des deutschen Rechts, die auch in den Liegenschaften der USA gelten müssen, gehört die Verfassungswidrigkeit der Vorbereitung eines Angriffskriegs nach Artikel 26 Grundgesetz. Daraus ist ein Verbot der Nutzung von Liegenschaften der USA für die Vorbereitung und Durchführung eines völkerrechtswidrigen Militärschlags gegen den Irak abzuleiten.

Das Truppenstatut und das Zusatzabkommen können also nicht zur Begründung einer Bündnispflicht Deutschlands herangezogen werden, die Nutzung des deutschen Bodens und Luftraums und der Militärstützpunkte der USA in Deutschland zur Vorbereitung und Durchführung eines Militärschlags gegen den Irak zu dulden. Diese Verträge beschneiden das Recht der Bundesregierung nicht, die Nutzung deutscher Häfen und Flugplätze, des Luftraums und der den USA zur Verfügung gestellten Militärstützpunkte für einen Militärschlag der USA gegen den Irak zu untersagen. Die Verwendung deutschen Territoriums durch die USA verbleibt in der Entscheidungskompetenz Deutschlands.

Bilaterale Abkommen mit den USA

Es bestehen zwei einschlägige bilaterale Verträge zwischen der Bundesrepublik und den USA, nämlich das Abkommen vom 30. Juni 1955 über gegenseitige Verteidigungshilfe und das Abkommen vom 15. April 1982 über Unterstützung durch den Aufnahmestaat in Krise oder Krieg. Beide Abkommen beziehen sich auf den NATO-Vertrag und damit auf einen möglichen Verteidigungsfall und anerkennen die Entscheidungsbefugnis der Bundesrepublik Deutschland.
Im ersteren Abkommen geht das schon aus der Präambel hervor, wo von der Erhaltung und Fortentwicklung der „gemeinsamen Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe“ die Rede ist. Ebenso aus Artikel 2, wo auf Hilfe Bezug genommen wird, die die Bundesregierung „gegebenenfalls genehmigt“.

Einer genaueren Betrachtung muss das letztere Abkommen unterzogen werden. In Artikel 1 heißt es: „Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika beabsichtigt, im Falle einer Krise oder eines Krieges im Einvernehmen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ihre in der Bundesrepublik stationierten vier Divisionen (…) zu verstärken, um in der Bundesrepublik Deutschland nach Möglichkeit bei Beginn oder erwartetem Beginn der Kampfhandlungen zehn Divisionen und dazugehörige fliegende Staffeln für eine erfolgreiche Vorneverteidigung bereitzustellen. Für Zwecke dieses Abkommens stellen die Vertragsparteien gemeinsam fest, wann eine Krise oder ein Krieg besteht. Die Bereitstellung derartiger Kräfte ist Gegenstand von Konsultationen zwischen den Vertragsparteien und der NATO (…).“

So dubios das Abkommen für einen souveränen Staat auch sein mag: Es soll erstens – wie es in der Präambel heißt – der Stärkung der „Verteidigungsfähigkeit des Nordatlantischen Bündnisses“ dienen. Das zeigt der Verweis auf die Artikel 3 und 5 des NATO-Vertrags und auf das Ziel erfolgreicher „Vorneverteidigung“. Ein Militärschlag der USA wäre – wie ausgeführt – kein Verteidigungsfall, auch kein Fall von „Vorneverteidigung“. Zweitens enthält das Abkommen keinen Automatismus dergestalt, dass die Aufstockung der US-Streitkräfte im Einzelfall keiner deutschen Genehmigung bedürfte. Es heißt, dass die Verstärkung der Präsenz der US-Streitkräfte „im Einvernehmen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland“ erfolgt. Die Bundesregierung kann die Genehmigung auch verweigern. Kein Abkommen kann dazu herhalten, eine Pflicht Deutschlands zur Duldung oder Unterstützung völkerrechtswidriger, aggressiver Handlungen der USA von deutschem Boden aus zu begründen.

Wenn die Bundesregierung duldet oder zusichert, dass deutsches Territorium von den USA zur Vorbereitung und Durchführung eines Militärschlags gegen den Irak missbraucht werden kann, dann nicht, weil Bündnisverpflichtungen ihr das abverlangen, sondern weil ihr der politische Wille und die Durchsetzungskraft fehlen, sich den Kriegsabsichten der USA konsequent zu widersetzen. Sie begeht damit selbst einen schweren Völkerrechtsbruch.

Völkerrechtler und Kommunist
Gregor Schirmer, geboren 1932 in Nürnberg, siedelte 1950 in die DDR über, da er wegen seiner Tätigkeit als FDJ-Kreisvorsitzender politisch verfolgt wurde. Er studierte Jura in Leipzig und wurde Professor für Völkerrecht in Jena. Schirmer war Volkskammerabgeordneter und von 1965 bis 1976 Stellvertretender Minister für Hoch- und Fachschulwesen. Anschließend war er bis 1989 Stellvertretender Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED. Nach der Konterrevolution arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag und Mitglied des Ältestenrats der Partei „Die Linke“. Schirmer starb Ende Februar in Berlin.

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"Deutschland – ein Aufmarschgebiet der USA?", UZ vom 17. März 2023



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