Trotz Nawalny keine Rede mehr von „Nord Stream 2“

Deutsche Arroganz und russisches Gas

Neulich hatte man noch im Kabinett darüber geredet, ob die Gasleitung „Nord Stream 2“ als Reaktion auf den angeblichen Giftanschlag auf den russischen rechten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gestoppt werden solle. Der ist in deutschen Großredaktionen weltbekannt und erhielt dort die merkwürdige Berufsbezeichnung „Kremlkritiker“. Das ist etwa so, wie Björn Höcke oder Alexander Gauland zu „Kanzleramtskritikern“ zu ernennen.

Weil Herr Nawalny also in Berlin und Umgebung eine bedeutende Figur der Weltpolitik ist, erfordert ein vorgeblicher Anschlag auf ihn eine weltpolitische Reaktion. Angela Merkel trat also am 2. September vor die Presse und berief sich auf den „klaren Befund“ eines Bundeswehr-Speziallabors: Nawalny sei „Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe“. Der Befund war so klar, dass die Bundeskanzlerin ihn bis heute Moskau vorenthält, vier Rechtshilfeersuchen von dort ignorieren lässt und ihn nur der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zukommen ließ, in deren Bericht von Anfang Oktober die Vokabel „Kampfstoff“ nicht mehr auftaucht. Bei Nachfragen aus Moskau an die OPCW verwies diese auf Berlin, Berlin wiederum auf die OPCW und so weiter. So schilderte es der russische Außenminister Sergej Lawrow am 9. Oktober in Moskau auf einer Pressekonferenz mit seinem dänischen Amtskollegen Jeppe Kofod und sagte wörtlich: „Wir sind sehr besorgt über Tendenzen einer Wiederkehr von Arroganz in Deutschland.“

Offiziell hatte die Bundesregierung die im Bau befindliche Pipeline nicht ins Spiel gebracht, aber am 6. September erklärte Heiko Maas in „Bild am Sonntag“: „Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu ‚Nord Stream 2‘ zu ändern.“ Und Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bemühte am selben Tag die Nachrichtenagentur „Reuters“: „Ich habe immer gesagt, dass ‚Nord Stream 2‘ für mich kein Herzensprojekt ist.“ Denn Herzenssache ist der Aufmarsch gegen Russland. Am 7. September ließ die Kanzlerin mitteilen, dass sie sich den Äußerungen ihres Außenministers anschließe.

Einen Monat später kam „Nord Stream 2“ in dem Fall nicht mehr vor. In „Bild“ beschimpfte Nawalny am 7. Oktober zwar Wladimir Putin als Mörder und Gerhard Schröder als dessen „Laufburschen“, schlug aber nur Sanktionen gegen einzelne Personen vor. Am selben Tag kündigte Maas im Bundestag „zielgerichtete und verhältnismäßige Sanktion gegen Verantwortliche auf russischer Seite“ an. Die Übereinstimmung zwischen „Kremlkritiker“ und Außenminister war zwar bei unbewiesenen Behauptungen und Größenwahn komplett, aber „Nord Stream 2“ kommt nicht mehr vor.

Was mit Tigergebrüll begonnen hatte, endete vorläufig am Montag beim Rat der EU-Außenminister in gewundenen Formulierungen. Man habe „politische Einigkeit“, sagte EU-Außenbeauftragter Josep Borell, über einen deutsch-französischen Vorstoß hergestellt, mit Vorbereitungen für Sanktionen gegen einige Personen in Russland zu beginnen. Dem „Handelsblatt“ war das am Dienstag keine Zeile wert und die FAZ kommentierte, die EU bewege sich rechtlich „auf dünnem Eis“.

Wo aber Barthel das Gas holt, dämmert den Leutchen inzwischen. Der MDR ließ am Dienstag die Energieexpertin Kirsten Westphal von der Denkfabrik der Bundesregierung, der Stiftung Wissenschaft und Politik, erklären, der deutsche Gasbedarf steige wegen Atom- und Kohleausstieg, aber das Angebot sinke außer bei teurem Flüssiggas oder „Nord Stream 2“: „Als Analystin würde ich sagen, es wäre schön, wenn wir sie hätten. Weil man davon schon preisdämpfende Effekte erwarten kann.“
Was bleibt nach Nawalny? Die Wiederkehr der deutschen Arroganz. Ansonsten wachsender Bedarf an russischem Gas.

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"Deutsche Arroganz und russisches Gas", UZ vom 16. Oktober 2020



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