Zur Lage der Frauen in der VR China

Der Weg zur Gleichheit

Von Bennett Guillaume, Schanghai

Jede Bewertung der Gleichstellung der Geschlechter in der Volksrepublik durch einen westlichen Mann mit weniger als rudimentären Kenntnissen der chinesischen Sprache muss mit Vorsicht betrachtet werden.

Beginnen wir mit der Feststellung, dass ein Staat nicht gleichbedeutend ist mit einheitlichen Bedingungen. China ist – wie viele Länder – ein Land mit einem regional deutlich unterschiedlichen Entwicklungsstand und unterschiedlichen kulturellen Tendenzen. Es ist keine große Erkenntnis darauf hinzuweisen, dass die „Politik“ der häuslichen Sphäre – des Haushalts – für die Bestimmung des öffentlichen Status von Frauen von Bedeutung ist. Die Gleichheit vor dem Gesetz und sogar die staatliche Förderung der weiblichen Erwerbsbeteiligung und der sozialen Teilhabe können natürlich nur begrenzte Auswirkungen haben, solange Frauen die Verantwortung für Hausarbeit und Kinderbetreuung größtenteils oder vollständig übernehmen. Und im Allgemeinen sehen chinesische Frauen ihre Karrierechancen und Chancen für eine Teilnahme an Politik und sozialen Organisationen durch die Tendenz eingeschränkt, dass sie sich daheim mit mehr Verantwortung zurückgelassen sehen.

Aber inwiefern sind sie eingeschränkt durch Hausarbeit und die Versorgung der Kinder?

Eine vor Kurzem durchgeführte Umfrage ergab, dass 61,6 Prozent der chinesischen Männer und 54,6 Prozent der Frauen der Aussage zustimmen, dass „das Feld der Männer die Öffentlichkeit und die Domäne der Frauen der Haushalt ist“. Für Befürworter der Gleichberechtigung ist beunruhigend, dass diese Prozentsätze seit Durchführung einer ähnlichen Umfrage im Jahr 2000 deutlich angestiegen sind. Aus der Umfrage ging allerdings nicht hervor, ob die Befragten der Meinung waren, dass diese Rollenverteilung lediglich die aktuellen Bedingungen beschreiben oder ob sie so ist, wie die Dinge sein sollten.

Chinesische Frauen und Männer, die ich zu diesem Thema befragt habe, kritisieren solche Erhebungen, weil sie eine komplexere Realität verzerrten, zu dieser Frage gebe es große regionale und Klassenunterschiede.

Ich lebe in einer Megacity, in der Chinas Behauptung, ein „Entwicklungsland“ zu sein, auf den ersten Blick übertrieben bescheiden erscheint. Im riesigen industriellen (oder was viele als postindustriell bezeichnen würden) Schanghai, einem Stadtgebiet mit dem weltweit möglicherweise höchsten Anteil an weiblichen Arbeitskräften, sind die Beziehungen nicht das, was die genannte Umfrage impliziert. Die meisten Männer machten hier viel Hausarbeit, heißt es. Ein sehr intelligenter und gut informierter Kollege von mir, der auch Parteimitglied ist, besteht darauf, dass Männer in Schanghai insgesamt stark egalitär sind. Sie wüchsen in Haushalten mit starken Frauen auf und gehen in Fabriken, Schulen und Geschäfte, in denen Frauen arbeiteten. Diese Männer trügen aufgeklärte Einstellungen in ihre eigenen romantischen Beziehungen und Ehen.

Väter sind hier tatsächlich in den Vorbereitungskursen zu sehen, zu denen Kinder jeden Alters nach der Schule und am Wochenende geschleppt werden. Viele verbringen Stunden damit, Hausaufgaben mit ihrem Kind zu machen.

„Es ist ein Nord-Süd-Unterschied“, meint eine Freundin und argumentiert, dass sich Männer aus dem Norden – von denen sie häufig behauptet, sie hielten an einer patriarchalischen Haltung fest – über „gehorsame“ Schanghai-Ehemänner lustig machten, die ihre Frauen „fürchteten“. In gleicher Weise behaupten Schanghaier aus der Arbeiterklasse, dass das Patriarchat ein Überbleibsel aus ländlichen, bäuerlichen Haushalten ist. Die fortschreitende Modernisierung werde es beseitigen. Diese Behauptung ist keine Überraschung.

Ein weiterer regionaler Unterschied: Die Analphabetenrate unter Frauen ist in ganz China höher als die von Männern. In Schanghai, Guangdong und Xinjiang sind es allerdings 5 Prozent, in Tibet 49 Prozent, nach offiziellen Zahlen der VR China.

Es steht außer Frage, dass der materielle Status von Frauen durch die wirtschaftliche Entwicklung und die daraus resultierende Verringerung der Armut erheblich verbessert wurde. Linke Kritiker der exportorientierten Strategie der Post-Mao-Ära, die Millionen junger Erwachsener aus der Landwirtschaft in die Fabriken sog, heben stark hervor, dass die Bedingungen nicht so waren wie in der Ersten Welt. Arbeitsregeln seien von Arbeitgebern, die aus Beschreibungen von Charles Dickens stammen könnten, allgemein missachtet worden. Aber diese Revolution hat genau das getan, was Marxistinnen und Feministinnen wussten (oder hätten wissen sollen): Eine Generation junger Frauen wurde von der oft kleinlichen Tyrannei eines Bauernvaters oder -ehemanns und einem Leben der Plackerei befreit. Natürlich waren die Fabriken, in die sie eintraten, eine begrenzte Form der Befreiung, aber dennoch eine echte Befreiung, die Löhne, persönliche Mobilität und mehr Freiheit bot, um Beziehungen ihrer Wahl zu bilden – neben anderen Möglichkeiten.

In vielen Fällen schmiedete dieser schwierige und oft erschreckende Prozess auch weibliche Kämpferinnen, die bereit waren, zurückzuschlagen, wenn ihre Chefs sich weigerten, Vereinbarungen einzuhalten, Löhne zu zahlen oder Beiträge zu Sozialfonds zu leisten.

Lohnwachstum

Die Löhne sind im letzten Jahrzehnt in allen Sektoren stetig und erheblich gestiegen, besonders in Bereichen, in denen eine große Zahl von Frauen tätig ist. Im Zeitraum von 2005 bis 2016 stieg der durchschnittliche Verdienst im verarbeitenden Gewerbe unter Berücksichtigung der Inflation um über 200 Prozent. Die Reallöhne für Beschäftigte im Groß- und Einzelhandel stiegen noch deutlicher. Weniger stark angestiegen sind die Gehälter im Hotel- und Gaststättengewerbe. Aber auch hier scheint der Anstieg immer noch über 150 Prozent zu liegen, selbst nach Berechnungen, die die Inflationsrate oberhalb der offiziellen Angaben sehen. In der Bildung, einem weiteren Sektor, in dem Frauen zahlreich und prominent vertreten sind, lag das Lohnwachstum zwischen 2005 und 2016 bei rund 250 Prozent.

Diese Zahlen sind Durchschnittswerte, die Ungleichheiten überdecken. Darin enthalten sind die Gehälter von Führungskräften. Unabhängig von den Vorbehalten, die gegenüber solchen Daten bestehen, weisen sie unbestreitbar auf einen erstaunlichen Anstieg des persönlichen Wohlstands hin, an dem Frauen aktiv teilhaben. Dies stimmt mit den zahlreichen Meinungsäußerungen mir gegenüber überein, die sich kritisch mit verschiedenen Richtlinien und Praktiken in der VR China auseinandersetzen. Nach einer Litanei oft begründeter Kritik sagen sie: „Aber man kann doch nicht bestreiten, dass wir alle viel reicher sind als unsere Eltern und Großeltern.“ Und natürlich gehören „wir alle“ dazu, also auch Frauen.

Die Früchte des seit langem bestehenden Bekenntnisses der Kommunistischen Partei zur Gleichstellung der Geschlechter – und der Ehrgeiz zeitgenössischer chinesischer Frauen – schlagen sich auch in anderen Daten nieder. Obwohl sie in der Gesellschaft insgesamt in der Unterzahl sind, sind Frauen an Universitäten inzwischen zahlreicher vertreten als Männer. Zwischen 2000 und 2013 stieg die Zahl der mittleren und hochrangigen technischen Mitarbeiterinnen laut Vivian Yang vom Pekinger Büro des Weltwirtschaftsforums von 35 auf 44 Prozent.

55 Prozent der neu gegründeten Internetfirmen sind mittlerweile von Frauen ins Leben gerufen worden und mehr als ein Viertel der Unternehmerinnen des Landes sind Frauen, womit China möglicherweise Weltspitze ist.

Man kann nicht über den Status von Frauen auf dem Land diskutieren, ohne über die berühmte (oder berüchtigte) Ein-Kind-Politik zu berücksichtigen, die von Ende der 1970er Jahre bis 2016 galt. Nationale Minderheiten waren von dieser Regel ausgenommen, in geringerem Maße auch Han-Chinesen in den ländlichen Gebieten. Kritiker, westliche und andere, haben die Aufmerksamkeit nicht ohne Grund auf die drakonischen Strafen gelenkt, die Frauen und ihren Ehemännern auferlegt wurden, die in dieser Zeit weitere Kinder bekamen. Viele verloren ihre Arbeit und wurden dazu verurteilt, am Rande der Gesellschaft zu leben. Es wurden hohe Geldstrafen erhoben. Einige Beobachter haben sogar die Wirksamkeit der Politik zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums in Frage gestellt.

Aber zweifellos ist richtig, dass die Ein-Kind-Regel die Rolle der Frau in der Öffentlichkeit stärkte. Karrieren wurden, obwohl sie von einem Baby unterbrochen wurden, nicht behindert. Eine Reihe von Unterstützungsleistungen wie öffentliche Kinderbetreuung und die Großeltern, die früher in den Ruhestand gehen als ihre westlichen Kollegen (Männer häufig mit 60 und Frauen mit 55 oder 50 Jahren) und somit für ein Kind während der Nachmittagsstunden zur Verfügung standen, leisteten weitere Beiträge dazu.

Sicher trägt dies dazu bei, dass China die weltweit höchste Erwerbsbeteiligung von Frauen hat.

Und wenn ein männliches Kind bedeutete, dass es einen echten Prinzen im Haus gab, dann war ein einzelnes Mädchen eine Prinzessin. Eine oftmals zweifellos verwöhnte Prinzessin, die aber auch fast jeden Vorteil und jeden erdenklichen Nutzen hat, den zwei Eltern und zwei Großelternpaare ihr geben können. Die Erziehung des Mädchens wird zu einer heiligen Sache und ihre Zukunft zum wichtigen Thema,

Dies bedeutet nicht, dass es nicht das Ziel ihrer Familie ist, sie „gut verheiratet“ zu sehen. Ihren potenziellen schulischen und beruflichen Leistungen sind jedoch keine Grenzen gesetzt. Chinesische Eltern, die sich für ihre Töchter einen Ehepartner wünschen (und oft wissen, wie sie in diese Richtung starken Druck ausüben müssen), verhöhnen regelmäßig das „Prinzessinnen“-Syndrom – die Vorstellung, dass es ein realistischer Lebensplan sei, einfach nur schön zu sein und dadurch einen wohlhabenden Ehemann „an Land zu ziehen“.

Vom Druck, perfekt zu sein

Was nicht heißt, dass der Druck, gut auszusehen, nicht enorm ist. China schätzt (oder, vielleicht eher, verlangt) weibliche Schönheit – aus traditionellen Gründen, aber auch aufgrund einer dynamischen Marktkultur. Frauen aller städtischen Schichten stehen unter enormem Druck, schlank zu sein, makellos gepflegt, modisch gekleidet und strahlend. Sie müssen gute Arbeiterinnen sein, gute Schülerinnen, gute Mütter und schöne Menschen. Kurz gesagt, sie sind aufgefordert, perfekt zu sein. Männern dagegen, die es in ihrem Berufsleben geschafft haben, wird in den anderen Bereichen mit ziemlich großer Nachsicht begegnet.

Dies ist die für Frauen schmerzhafte Seite ihrer Emanzipation in der Volksrepublik China. Sie können alles sein, was sie sein wollen … und gleichzeitig auch Gegenstände sexueller Begierde sowie menschliche Dekoration. Zweifellos eine gewaltige Aufgabe, vor der sie stehen.

Die Informationen, die die üblichen Gradmesser der Gleichheit uns vermitteln, sagen uns, dass rund 24 Prozent der Delegierten des letzten Parteitages der KPCh im Oktober 2017 Frauen waren – ein Prozent mehr als bei den Parteimitgliedern insgesamt. Im Politbüro der Kommunistischen Partei gibt es nur eine Frau – bei 25 Mitgliedern.

„Eins niedrig und drei klein“ ist der Ausdruck, der die Situation weiterhin charakterisiert: ein niedriger Frauenanteil in der Politik, eine kleine Anzahl von Frauen in Spitzenpositionen, eine relativ kleine Anzahl von Frauen, die im Allgemeinen höhere Positionen einnehmen und eine relativ kleine Anzahl von Frauen in wichtigen Sektoren.

Vielleicht sollte der nächste Schritt jedoch nicht der Ausgleich an der Spitze sein, sondern die Belebung von Unten. Wo gibt es in großer Zahl chinesische Frauen? In den Fabriken, Büros, Schulen und Krankenhäusern des Landes. Nach chinesischem Recht sollen „Arbeiterinnen und Arbeiter durch demokratische Arbeiterkongresse, Arbeitervertreterversammlungen oder andere Formen gemäß dem Gesetz (…) an der demokratischen Unternehmensführung teilnehmen“.

Der Weg zur Emanzipation führt über diesen Weg. Die Mobilisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern zur Verteidigung ihrer Rechte und Lenkung ihrer Betriebe braucht die Mobilisierung der Frauen. Insgesamt sind Arbeiterinnen und Arbeiter in China in dieser Hinsicht noch viel zu zaghaft. Aber dieser kleinere, unmittelbare und doch strategische Raum kann der Ort der Volksbeteiligung sein. Und wenn die Dinge unten aufgewühlt sind, werden sich die Auswirkungen auf die von Männern dominierte Oberseite bemerkbar machen.

Einige Daten und Fakten

Chinas Verfassung schreibt in Artikel 48 vor: „Frauen in der Volksrepublik China haben in allen Lebensbereichen, in politischer, wirtschaftlicher, kultureller, sozialer und familiärer Hinsicht die gleichen Rechte wie Männer.“ Und weiter heißt es: „Der Staat schützt die Rechte und Interessen von Frauen.“ Ebenso unterstreicht das Gesetz der Volksrepublik China über den Schutz der Rechte und Interessen von Frauen die Gleichberechtigung von Mann und Frau und sagt in Artikel 2: „Diskriminierung, Misshandlung, Missachtung und Missbrauch von Frauen sind verboten.“

Global betrachtet ist die Ungleichheit der Geschlechter in China relativ gering. Im Jahr 2014 rangierte China im Index der Vereinten Nationen für geschlechtsspezifische Ungleichheit an 40. Stelle von insgesamt 187 Ländern. Chinas Müttersterblichkeitsrate lag 2015 bei 27 von 100000 Lebendgeburten. Zum Vergleich: Die USA (2016) lagen bei 19. Im Jahr 2014 hatten 59 Prozent der Frauen (ab 25 Jahren) eine Sekundarschulausbildung oder mehr abgeschlossen, verglichen mit 72 Prozent bei den Männern. Und die Erwerbsquote von Frauen lag bei 63,9 Prozent (78,3 Prozent bei den Männern). 24,9 Prozent der Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses sind Frauen (verglichen mit 27 Prozent im kanadischen Parlament).

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"Der Weg zur Gleichheit", UZ vom 8. März 2019



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