Julia von Lindern ist Diplomsozialpädagogin beim Düsseldorfer Straßenmagazin Fiftyfifty.
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www.fiftyfifty-galerie.de
UZ: Obdachlosigkeit wird von der Öffentlichkeit vor allem in den kalten Wintermonaten wahrgenommen. Allein in diesem Winter sind offiziell über zehn Wohnungslose in der Bundesrepublik gestorben. Warum konnte das nicht verhindert werden?
Julia von Lindern: Die Zahl der obdachlosen Menschen steigt seit Jahren wieder massiv an. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2018 rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wohnungslos waren, und darunter sind rund 50000 Menschen, die tatsächlich auf der Straße schlafen, also obdachlos sind. In vielen Großstädten wurden daher zusätzlich zu den regulären Notschlafstellenplätzen sogenannte Winternothilfen geschaffen, um Menschen vor dem Erfrierungstod zu schützen. Diese zusätzlichen Plätze in den Winternothilfen entlasten die Wohnungslosenhilfe zwar kurzfristig, allerdings gibt es in den meisten Großstädten immer noch mehr Obdachlose als angebotene Schlafplätze. Die Stadt Hamburg stellt beispielsweise 760 Plätze in ihrer Winternothilfe bereit – das sind jedoch mindestens 1 150 Plätze weniger als es Obdachlose in der Stadt gibt.
Gleichzeitig sind die Angebote der Wohnungslosenhilfe, beispielsweise der Tagesstätten oder Notschlafstellen, aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer oftmals unpassend.
UZ: Warum?
Julia von Lindern: Als Gründe werden hierfür etwa fehlende Privatsphäre, Gewalt und Diebstähle in den Einrichtungen, das Mitnahmeverbot von Hunden oder die fehlende Möglichkeit, als Paar gemeinsam in Notschafstellen zu übernachten, genannt. Und schließlich fehlen bezahlbare Wohnungen, um die Obdachlosigkeit tatsächlich zu beenden. Mehr als die Hälfte der wohnungslosen Menschen sind zwei Jahre und länger obdach- bzw. wohnungslos, auch hier ist eine deutliche zeitliche Verlängerung zu verzeichnen. Der Weg auf die Straße ist kurz, der Weg weg von der Straße hingegen mühsam und lang.
UZ: Jedoch mangelt es nicht nur an wirksamen Hilfsangeboten, auch die tatsächlichen Todesfälle sind nicht bekannt, da sich die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD bis heute weigert, bundesweite Statistiken zur Wohnungslosigkeit zu führen. Wie lautet die offizielle Begründung dafür?
Julia von Lindern: Offensichtlich haben die derzeitige, aber auch die bisherigen Bundesregierungen kein Interesse daran, das Problem der Obdachlosigkeit tatsächlich zu beheben. Anders lässt sich die jahrzehntelange Ignoranz der Politikerinnen und Politiker von CDU, SPD, Grünen und FDP nicht erklären. Mit der integrierten Wohnungsnotfallberichterstattung ist Nordrhein-Westfalen das bisher einzige Bundesland mit einer umfassenden Erhebung über die Quantität und Struktur der Wohnungsnotfälle. Mit dieser Erhebung werden Bedarfe und Entwicklungen dokumentiert, die Ergebnisse fließen in die sozialpolitische Planung und Handlung ein, wenngleich auch in NRW das Problem der Obdachlosigkeit massiv zugenommen hat.
UZ: Auf Bundesebene existieren zwar Schätzungen zur Anzahl der Obdachlosen, aber kann den Betroffenen überhaupt sachgerecht geholfen werden, wenn nicht einmal bekannt ist, um wie viele Menschen es sich tatsächlich handelt?
Julia von Lindern: Der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat einmal treffend formuliert: Was nicht zählt, wird nicht gezählt. Für nahezu alle denkbare Themen gibt es in Deutschland Statistiken. Die krasseste Form von Armut, nämlich die Obdachlosigkeit, wird hingegen bewusst ausgegrenzt.
UZ: Müsste es in einem verhältnismäßig reichen Land wie der Bundesrepublik überhaupt Wohnungslosigkeit geben?
Julia von Lindern: Die Ursachen für die Wohnungslosigkeit liegen in der verfehlten Wohnungs- und Sozialpolitik. Wir haben in Deutschland massiven Wohnungsmangel, die Mieten explodieren, gleichzeitig wird das Niveau der existenziellen Absicherung gesenkt und der Sozialstaat zurückgefahren.
Viele Städte verkaufen weiterhin aus lauter Profitgier den kommunalen Wohnungsbestand oder unbebaute Flächen – und das in dem Wissen, dass sie die Probleme damit weiter verschärfen.
UZ: Was konkret erwarten Sie in Sachen Wohnungspolitik von den verantwortlichen Politikern?
Julia von Lindern: Wir brauchen ein radikales Umdenken in der Wohnungs- und Sozialpolitik, Investoren müssen enteignet werden, denn Wohnungen sind keine Ware. In Hamburg und Berlin gibt es mittlerweile die ersten Rückkäufe und damit Versuche der Rekommunalisierung durch Vorkaufsrechte. Dies darf jedoch unter keinen Umständen zu den Bedingungen und Preisvorstellungen der Immobilienkonzerne geschehen.
UZ: In Berlin wird die Gruppe nichtdeutscher Wohnungsloser immer größer. Viele Betroffene kommen aus Osteuropa, darunter auch eine Reihe von Jugendlichen. Stellt das Träger wie den Ihren vor besondere Herausforderungen?
Julia von Lindern: Mittlerweile kommen über 50 Prozent der Menschen in der Straßenobdachlosigkeit aus dem europäischen Ausland, in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe finden sie allerdings keine Unterstützung, da sie in Deutschland keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Und die meisten Einrichtungen arbeiten nach dem Credo: Wenn kein Leistungsträger, dann keine Hilfe.
Diese Haltung stellt insbesondere die niedrigschwelligen Hilfen vor enorme Anforderungen, da wir es bei dieser Personengruppe mit absoluter Armut zu tun haben: Sie haben oftmals keinerlei Einkommen, keine Krankenversicherung und sind völlig schutzlos auf der Straße. Kältebusse und medizinische Hilfen für Nichtversicherte haben daher eine große Nachfrage, auch an Sachspenden wie Isomatten, Schlafsäcken und Kleidung.
Gleichzeitig treffen wir wieder vermehrt junge Menschen auf den Straßen – die Wohnungslosenhilfe spiegelt auch hier die verfehlte Sozialpolitik der EU. Andere Länder haben eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Junge Menschen kommen folglich auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland – und erleben hier Niedriglohnsektoren, Ausbeutung und Schikane, wie beispielsweise zuletzt die Debatte in der Vorweihnachtszeit um Paketzusteller drastisch zeigte. Nach Weihnachten ist diese öffentliche Diskussion allerdings verschwunden – die desolaten Arbeitsbedingungen sind jedoch geblieben.
UZ: Ihr Verein belässt es nicht nur bei der Betreuung von Wohnungslosen. Vielmehr stellen Sie auch politische Forderungen auf. Ist diese Positionierung von fiftyfifty eine Ausnahme, oder gibt es mehrere Vereine, die in diesem Bereich arbeiten und sich so klar positionieren?
Julia von Lindern: Wir verstehen uns als Lobbyorganisation, soziale Arbeit und politisches Engagement sind für uns untrennbar miteinander verbunden. Als Straßenmagazin fiftyfifty sind wir mit anderen Zeitungen international organisiert, die Hamburger Kolleginnen und Kollegen von Hinz und Kunzt – als auflagenstärkstes deutsches Straßenmagazin – vertreten ebenfalls klare Positionen und mischen sich wirkungsstark und aktionistisch in die politischen Diskussionen ein. Dies gilt auch für andere Vereine und Organisationen. Allerdings nimmt das Verständnis für das politische Mandat in unserem Job leider kontinuierlich ab. Ganz zu schweigen von den Einrichtungen, die finanziell abhängig sind und dadurch einen politischen Maulkorb verpasst bekommen. Das gilt gleichermaßen für kirchliche und städtische Einrichtungen und ist für uns besonders bitter.
UZ: Zu einem anderen Thema: Sie setzen auf das Konzept „Housing First“. Was hat es damit auf sich?
Julia von Lindern: Wohnungslosigkeit bekämpft man am Besten, in dem man Wohnungslosen Wohnungen gibt. So prägnant und kurz lässt sich die Idee von „Housing First“ erklären. Das bedeutet, zuerst einmal bekommt ein Mensch eine Wohnung. Eine richtige, normale Wohnung. Keine Bleibe oder Notunterkunft. Eine Wohnung mit ganz normalem Mietvertrag. Nicht befristet, sondern für immer. Und dann erst werden alle anderen Probleme wie etwa Schulden, Sucht, Arbeitslosigkeit und so weiter in Angriff genommen. Aber nur, wenn dies auch gewünscht wird, was meistens der Fall ist. Weil wohnbegleitende Hilfen bei „Housing First“ konzeptionell von Akzeptanz, dem Recht auf Selbstbestimmung, Respekt und Verlässlichkeit geprägt sind. In Deutschland landen Obdachlose oftmals mehrfach auf der Straße. Sozialforscher nennen das Phänomen der immer wieder kehrenden Obdachlosigkeit „Drehtüreffekt“: rein in die Notwohnung und wieder raus – zumeist erneut auf die Straße. Warum eigentlich, diese Frage drängt sich geradezu auf, werden Wohnungslose nicht dauerhaft von der Platte geholt, wie etwa in Wien, wo der Anteil an Sozialwohnungen über 40 Prozent beträgt, also öffentlich geförderter Wohnraum ausreichend vorhanden ist. Im Vergleich: In deutschen Großstädten liegt die Quote oft nicht einmal bei 5 Prozent. Tendenz sinkend, weil in den letzten Jahren massenhaft preiswerter Wohnraum an Konzerne und Heuschrecken verscherbelt wurde. Warum also werden wohnungslose Menschen nicht dauerhaft mit Wohnungen versorgt? Das bisherige Modell der Wohnungslosenhilfe möchte Menschen über mehrere Stufen „wohnfähig“ machen. Doch was nutzt ein solches Stufenmodell von der Notschlafstelle über das „Trainingswohnen“, wenn am Ende der Markt keinen Wohnraum für Bedürftige zur Verfügung stellt? Und überhaupt: Wie soll eine menschenwürdige Versorgung mit Wohnraum funktionieren, wenn man sie dem Markt überlässt? Und was für ein zynischer Ansatz ist es, Menschen die Fähigkeit zum Wohnen anzudressieren? Schließlich, wie sollten behelfsmäßige, oft schäbige Übergangsbehausungen dazu dienlich sein, so etwas zu vermitteln? Als ob das Wohnen ein Lernprozess sei und nicht in erster Linie ein Menschenrecht.
UZ: In anderen europäischen Ländern wird „Housing First“ bereits erfolgreich praktiziert. Woran scheitert eine flächendeckende Einführung in der Bundesrepublik?
Julia von Lindern: Dort, wo „Housing First“ praktiziert wird, sind die Erfolge überwältigend. Finnland hat durch konsequente Umsetzung des Ansatzes die Straßenobdachlosigkeit binnen zehn Jahren praktisch beseitigt.
Bei der Ausgestaltung der Hilfen geht es jedoch – wie so oft – am Ende ums Geld. Die großen Wohlfahrtsverbände haben sich mittlerweile zu Unternehmen entwickelt, sie verdienen am derzeitigen Stufenmodell. Wir bohren daher derzeit politisch dicke Bretter.
UZ: Nun wird öfters behauptet, manche Obdachlose seien eine Art „Eigenbrödler“ und würden sich gar nicht dauerhaft helfen lassen wollen. Vielmehr hätten sie sich an das Leben auf der Straße gewöhnt. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?
Julia von Lindern: Der „Housing First“-Ansatz wurde damals in New York für psychisch kranke, drogengebrauchende und wohnungslose Menschen entwickelt. Zu sagen, dass es für die „echten Problemfälle“ der falsche Ansatz sei, erscheint vor diesem Hintergrund merkwürdig. Immerhin liegt die Erfolgsquote zwischen 79 und 90 Prozent derjenigen, die auch nach fünf Jahren noch in ihrer „Housing First“ Wohnung leben.
UZ: Ist es der etablierten Politik überhaupt ernst damit, Wohnungslosigkeit entschlossen zu bekämpfen?
Julia von Lindern: Schaut man sich die vorliegenden Fakten an, drängt sich der Eindruck auf, dass mit entsprechendem politischen Willen bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit noch viel Luft nach oben ist. Und noch drastischer: Statt wirksamer Hilfen für Obdachlose werden land auf, land ab die Polizeigesetze verschärft, mit massiven Einschränkungen auch für obdachlose und arme Menschen. Die Zero-Tolerance-Politik greift wieder um sich.
UZ: Ganz konkret haben Sie in Düsseldorf auch immer wieder Ärger mit dem Streifen vom Ordnungs- und Servicedienst (OSD). Wer hat diese warum eingesetzt? Und warum gehen diese gegen Wohnungslose vor?
Julia von Lindern: Im Jahr 1996 wurde unter heftigem Protest die Düsseldorfer Straßenordnung eingeführt. Seither gibt es immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen OSD und wohnungslosen Menschen. Als Grundlage für ihr schikanöses Handeln dient die Straßenordnung, sie verbietet beispielsweise „aggressives Betteln“ oder „Lagern“. Damit sollen Obdachlose aus der Innenstadt vertrieben werden.
Dieser Paragraf ist im Übrigen nach Gutachten der Juristen Dr. Michael Terwiesche und Jasper Prigge schlicht rechtswidrig, da zu unbestimmt. Trotzdem werden Obdachlose immer wieder mit Bußgeldern belegt. Die Schikane setzt sich jedoch fort, indem Postadressen von Wohnungslosen rechtswidrig nicht anerkannt werden oder Sicherheitsleistungen in Form von Bargeld oder Handys beschlagnahmt werden. In allen Fällen der Beschlagnahmung schreibt das Gesetz zudem verpflichtend einen Richtervorbehalt vor, dies wurde jedoch vom OSD ignoriert.
UZ: Aber auch fiftyfifty-Mitarbeiter hatten in der letzten Zeit regelmäßig Ärger mit den Streifen. Was war da los?
Julia von Lindern: Anfang November 2017 durchsuchten Frau Brecko und Herr Zimmermann vom OSD den zu 70 Prozent schwer behinderten polnischen Wohnungslosen Lukasz Szerla. Er fuhr mit dem Fahrrad durch die Fußgängerzone und sollte deshalb ein Verwarngeld in Höhe von 15 Euro zahlen. Die städtischen Angestellten wollten aber eine 600-Euro-Nachzahlung des Jobcenters, die sich in Szerlas Geldbörse befand, beschlagnahmen. Unser Streetworker Oliver Ongaro kam während eines routinemäßigen Streetworkrundgangs vorbei und versuchte, in dieser Situation zu vermitteln. Der OSD verweigerte jedoch die Herausgabe der 600 Euro. Als der Streetworker Oliver Ongaro die Polizei verständigen wollte, schlug die OSD-Mitarbeiterin Brecko ihm unvermittelt mehrfach mit dem Ellenbogen vor die Brust. Frau Brecko und Oliver Ongaro stellten jeweils Strafanzeigen wegen Körperverletzung.
Nach derzeitigem Stand gibt es aber vier entlastende Aussagen zu Gunsten von Oliver Ongaro: drei von Wohnungslosen und eine ausgerechnet von der dritten Ordnungsdienstkraft, die gar keine körperliche Auseinandersetzung mitbekommen haben will.