Ein Buch von Rüdiger Bernhardt zum Werk von Christoph Hein

Der vergessene Mythos – die zerstörerische Zivilisation

Torsten Schüller

Christoph Hein gehört mit seinem umfangreichen Schaffen zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: er ist Dramatiker, Essayist und vor allem Autor zahlreicher epischer Werke. Mehr als eine Generation von Leserinnen und Lesern eint der Wunsch, Hein möge nie aufhören zu schreiben und jedes Jahr ein neues Buch vorlegen. In den letzten Jahren erfüllte Hein seiner Lesergemeinde diesen Wunsch immer wieder und veröffentliche beispielsweise die Romane „Glückskind mit Vater“ (2016), „Trutz“, (2017), „Verwirrnis“ (2018), „Guldenberg“ (2021). Sie wurden immer Bestseller und lösten engagierte Diskussionen aus.

Für den Leserkreis, der Christoph Hein nicht nur zur Unterhaltung liest oder weil er ihn schon immer gelesen hat, ist 2021 in der Edition Schwarzdruck von Rüdiger Bernhardt: „Der vergessene Mythos – die zerstörerische Zivilisation. Zum Werk von Christoph Hein“ erschienen. Den Verfasser des Buches kennen die Leser dieser Zeitung seit Jahrzehnten als engagierten und vielseitigen Autor von Literaturkritiken und als Autor im Verlag Neue Impulse mit wichtigen Büchern über vernachlässigte Themen wie den Bitterfelder Weg und die Arbeit der sowjetischen Kulturoffiziere.

Nun endlich, möchte man sagen, legt er ein Buch zu Christoph Hein vor. Längst überfällig. Rüdiger Bernhardt, promovierter, habilitierter Germanist und Literaturwissenschaftler, gehört nicht nur zu den Lesern der Texte Heins seit dessen in Ost und West erfolgreicher Novelle „Der fremde Freund“ (1982), sondern er verfolgt und begleitet dessen literarisches Schaffen über mehrere Jahrzehnte intensiv, unter anderem veröffentlichte er in zahlreichen Fachzeitschriften und Monografien immer wieder Interpretationen zu Heins Texten. Dabei zahlt sich aus, dass Bernhardt wiederholt mit Hein in einen persönlichen Austausch über dessen Werke treten konnte. So entsteht eine kritische, aber besonders persönliche Sicht auf einen der bedeutendsten Gegenwartsautoren. Zu Beginn der Darstellung sieht man beide Autoren, den Schriftsteller und den Wissenschaftler, bei einer Begegnung aus dem Jahr 1997.

Heins Texte verlangen vielfach, dass der Leser auch hinter die Texte schaut, sich dem Autor dieser Texte nähert, Intentionen aufspürt, über die Lektüre hinaus mit Themen und Motiven des Werkes auseinandersetzt und mögliche Deutungsansätze oder Interpretationen erfährt. Nach dem Erscheinen eines neuen Romans kann man dazu regelmäßig Rezensionen im Feuilleton der Zeitungen lesen, nur bleiben diese in ihren Betrachtungen häufig oberflächlich.

Möchten sich Leserinnen und Leser Heins Werk systematisch tiefgründig und auch in ihren Zusammenhängen erschließen, eröffnet Bernhardt die Möglichkeit dazu. Er legt erstmals eine Gesamtschau zum Werk und Schaffen des Autors Christoph Hein vor. Diese Gesamtschau erscheint in jedem Fall sinnvoll. Bernhardt bestätigt dies mit seiner Aussage, dass Heins Werke für ihn mittlerweile „eine in sich geschlossene Einheit“ darstellen, „wie sie in der deutschen Literatur selten“ sei. Zu den besonderen Leistungen dieser Gesamtschau gehört, dass Bernhardt nicht nur auf das Gesamtwerk Heins blickt, sondern auch die Verknüpfungen und Verbindungen der Texte Heins zur gesamtdeutschen Literatur herstellt.

In dem zu Beginn abgedruckten Interview, das der Literaturwissenschaftler Klaus Hammer mit Rüdiger Bernhardt führt, blickt Letzterer auf seine erste öffentliche Äußerung zu Hein aus dem Jahre 1983 zu dessen ein Jahr zuvor erschienener Novelle „Der fremde Freund“ zurück. Bernhardt verweist darauf, dass seine Beschäftigung mit Hein einsetzte, als dieser zunächst dramatische Werke veröffentlichte. Früh erkannte Bernhardt deren Sogkraft, er spricht von der „verführerischen Kraft Hein’scher Texte“. Denn schon hatten die Leser der DDR Hein für sich entdeckt, der eine besondere Wirkung zu entfalten vermochte. Diese Wirkung erkannten auch die Literaturkritik und Literaturwissenschaft in Ost und West frühzeitig. Bernhardt widmet sich auch dieser Problematik am Ende seines Buches in einem gesonderten Abschnitt.

In seiner Darstellung folgt Rüdiger Bernhardt vorwiegend dem Prosaschaffen Heins in der Chronologie des Erscheinens der Werke und stützt sich auf ein umfangreiches Material unterschiedlichster Art aus den Jahren 1983 bis 2021: unter anderem Kommentare in Buchform, Analysen, Essays, Kritiken, Vortragsmanuskripte, Briefe, Gesprächsnotizen anlässlich verschiedener Gelegenheiten. So wird der Band gerade für Studierende, die zum Werk und Wirken Christoph Heins forschen, besonders lesenswert und hilfreich. Diesen Wert unterstreichen die umfangreichen bibliografischen Angaben, die sich in den Annotationen finden. Sie ermöglichen Studierenden eine intensive, weiterführende Beschäftigung.

Für alle aber bleibt die Feststellung, dass es Christoph Hein nie um die Kritik eines einzelnen Staates, zum Beispiel der DDR, ging, sondern dass er umfassendere kritische Betrachtungen vornahm, die die menschliche Zivilisation insgesamt betrafen. Deshalb blieben seine Werke, die zeitlich und räumlich an die bestimmte Wirklichkeit der DDR gebunden waren, auch nach dem Verschwinden dieser Wirklichkeit aktuell und einige begehrte Schulstoffe.

Rüdiger Bernhardt
Der vergessene Mythos – die zerstörerische Zivilisation
Zum Werk Christoph Heins
Gransee Edition Schwarzdruck, 2021, 408 Seiten 30,– Euro

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"Der vergessene Mythos – die zerstörerische Zivilisation", UZ vom 13. Mai 2022



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