Sich zu überleben ist ein Kunststück. Ronald M. Schernikau hat es bewiesen.
Vor allem in den letzten Jahren erfreut sich sein Werk einer wachsenden Leserschaft, die durch die Fleißarbeit einzelner Personen um Nachlass und Neuauflagen weiter genährt wird. 20 Jahre nach der Erstauflage erschien 2019 Schernikaus Opus Magnum „Legende“ im Verbrecher Verlag in einer umfangreichen und mit lehrreichem Anhang bestückten Ausgabe. Einer der damaligen Herausgeber: Lucas Mielke. Seine 2023 fertiggestellte Dissertation ist in diesem Spätsommer bei De Gruyter erschienen und bietet der akademischen Welt eine erstmalige Auseinandersetzung mit Schernikaus Schaffen in diesem Umfang.
Der vielversprechende Titel „Schernikau und die Poetik der Affirmation“ nimmt sich auf gerade einmal 241 Seiten eine Schaffensperiode von elf Jahren vor. Das verrät bereits, dass nur ein Überblick gegeben wird, jedoch einer, der sich auf das Wesentliche in Schernikaus Werk fokussiert. Ausgehend von drei Grundbegriffen, dem „schwulsein“, der „politik“ und dem „kommunismus“, wird (mit Ausnahme der „Irene Binz“) weitestgehend chronologisch analysiert, wie sich durch Schernikaus Texte hindurch eine ästhetische Programmatik der Affirmation, also der positiven Bejahung im Gegensatz zur Negation, entwickelt, welche sich letztlich auf die Frage eines kommunistischen Kunstbegriff ausrichtet.
Dabei gelingt es Mielke, die Komplexität des Schernikauschen Diktums „Etwas loben können“ deutlich herauszuarbeiten und anschaulich zu belegen, inwiefern damit nicht nur über die Verhältnisse hinausgedacht und damit die Welt als veränderbar begriffen wird. Zudem wird deutlich, dass es mehr braucht als die bloße Kritik an jenem „was ist“. Nämlich eine Ausrichtung auf jenes, „was sein soll“.
Für Schernikaus künstlerische Arbeit heißt das: „Ist sie ohne Utopie (also ohne Verweis auf „Freude“, „Vergnügen“, „Schönheit“), verrät sie die gesellschaftliche Emanzipation. Ist sie ohne Verankerung in der Gegenwart, fehlen ihr die Argumente, das heißt die Grundlage im Sinne einer Welt-Haltigkeit, um etwas Gültiges sagen und das Bessere imaginieren zu können.“
Diesen Widerspruch gilt es nicht nur in der Thematisierung des großen Ganzen, sondern gerade auch in den kleinen alltagsspezifischen Themen produktiv zu machen. In Schernikaus Welt heißt das, im Sujet der Parteigruppe ebenso wie in der schwulen Sub- und Popkultur. Besonders die letzten beiden werden von Mielke mit viel Aufmerksamkeit bedacht. Dabei verliert sich die Analyse jedoch nicht im Identitätspolitischen, sondern folgt dem Material in seinen Verknüpfungs- und Verallgemeinerungstendenzen.
Für Schernikau liegt darin nicht nur die Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt, sondern auch eine Haltung, die dem eigenen Bewusstsein einen höheren Stellenwert einräumt, als ihm die Verhältnisse gewähren. Mielke spricht hierbei in den Worten Stefan Ripplingers davon, dass der Autor seine „Position der Schwäche in eine der Stärke“ verkehrt. Eine durch die Verhältnisse in der BRD in eine Position der Schwäche gedrängte Trias aus wenig erfolgreicher Autorschaft, „falscher“ politischer Einstellung und sexueller Orientierung. Sich dennoch als Zukunft zu wissen ist es, was Schernikau zum Unsterblichen macht.
Gerade das Verhältnis von Schwäche und Stärke ist es, was Mielke auf die Füße fällt. Am offenkundigsten ist dies in der Analyse von Schernikaus Abschlussarbeit am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig, „tage in l.“. Generell tut er sich schwer mit Schernikaus Liebe zur DDR. Zwar merkt er an, dass „(d)iese Studie (…) nicht der Ort (sei), progressive und regressive Elemente einer politischen Haltung gegeneinander aufzuwiegen oder das Textkorpus in den Kontext einer moralisierenden Diskussion zu stellen“. Er kann sich dieser aber nicht erwehren. Ob beabsichtigt oder nicht, die Moralisierung passiert allein schon dadurch, dass Mielke die von ihm eingesetzte Sekundärliteratur kaum reflektiert übernimmt. Eine bürgerliche DDR-Forschung kommt freilich auf andere Schlüsse und setzt andere Akzente als eine Aufarbeitung und Auswertung aus dem kommunistischen Lager. Man wünscht sich, dass Mielke seinen eigens formulierten Schluss selbst ernst nehmen würde, wenn er feststellt, dass „Schernikaus Text (dazu anregt), das scheinbar Selbstverständliche anders zu sehen – Ausschnitte aus einem Ganzen ins Licht zu rücken und hegemoniale Narrative zu hinterfragen“.
Bei einer solchen Gesamtschau ist es ebenfalls bedauerlich, dass es die in „Irene Binz“ verarbeitete Lebensgeschichte von Ellen Schernikau bis in die 1970er Jahre nicht geschafft hat, über den Verweis der dokumentarischen Vorlage als Montageelement hinaus beachtet zu werden. Zumal folgendes Zitat eine so schöne Steilvorlage für die in „legende“ integrierte Blankversfassung gewesen wäre: „Verteidigt werden müssen nicht mehr Sätze, verteidigt werden muss die Fähigkeit zu Blankvers. Es gibt keinen Blankvers ohne Konsens. Warum haben alle mitgemacht? Weil Sozialismus war“ (Schernikau, Königin im Dreck). Hier ist wohl Nachsicht geboten, denn alles kann nicht in einer Doktorarbeit über Schernikau verhandelt werden, da müssen weitere folgen.
Lucas Mielke
Schernikau und die Poetik der Affirmation
De Gruyter, 241 Seiten, 109,95 Euro
Eine kleine (aktuell erhältliche) Lektüreauswahl von und über Schernikau:
Ronald M. Schernikau
Kleinstadtnovelle
Konkret Literatur Verlag, 80 Seiten, 15 Euro
die tage in l. – darüber, dass die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur
Konkret Literatur Verlag, 216 Seiten, 18 Euro
Legende
Verbrecher Verlag, 1.072 Seiten, 58 Euro
Königin im Dreck
Herausgeber Thomas Keck, Verbrecher Verlag, 304 Seiten, 18 Euro
Matthias Frings
Der letzte Kommunist – Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau
Aufbau Verlag, 496 Seiten, 12,95 Euro
Lieben, was es nicht gibt – Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau
Helen Thein, Helmut Peitsch (Hg.), Verbrecher Verlag, 368 Seiten, 24 Euro