Sehr selten wird hierzulande so etwas wie der Jugendwiderstand thematisiert. Es gab die Weiße Rose, es gab die Edelweißpiraten. Die einen werden geachtet, man kann nicht an ihnen vorbeisehen, weil sie schon vor 1945 international bekannt wurden. Die anderen wurden lange Zeit als Kleinkriminelle dargestellt und erst sehr spät begann man, sie wegen ihres Kampfe gegen die Nazis anzuerkennen. Der 27. Oktober, der 75. Todestag von Helmuth Hübener, jüngster vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilter, sollte zum Anlass genommen werden, an die jungen Menschen zu erinnern, die aus eigener Verantwortung und aus dem Gewissen heraus, ohne organisatorischen und politischen Hintergrund, gegen die Nazis aufstanden.
Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte in München hat eine kleine Schar von unabhängig wirkenden „Rundfunk“-Widerständlern ausgemacht. Diese „Rundfunkverbrecher“ wurden von den Nazis als Feinde des Reiches behandelt, weil sie die Rundfunkpropaganda des Auslands, die als Kriegswaffe anzusehen war, im Reich verbreiteten. Dies galt als Landesverrat, weil es die Wehrkraft des deutschen Volkes zersetzte.
Weiße Rose, Edelweißpiraten, Jungkommunisten und jugendliche Rundfunkverbrecher zählt Professor Karl Heinz Jahnke (1934–2009), der größte Kenner und Erforscher des Jugendwiderstandes, zu den insgesamt 268 Jugendlichen, die von 1933 bis 1945 von der Nazijustiz als Widerstandskämpferinnen und -kämpfer getötet wurden. (Siehe K. H.Jahnke „Jugend unter der NS-Diktatur 1933–1945“, Rostock 2003)
Jahnke wies darauf hin, dass in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung der Weißen Rose im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weiße-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 49 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet wurden. Sie seien weithin unbekannt geblieben.
Der Umgang mit diesen Widerstandsgruppen, die sich zumeist dadurch auszeichneten, den Widerstand ohne Bezug zur demokratischen Kultur der Zeit vor 1933, ihrer frühen Kindheit, aufgenommen zu haben, und zwar ungeachtet des Siegesrausches, in dem sich Hitler und die meisten Volksgenossen noch befanden, ist eine Ausnahme.
Konnte die Nachkriegsgesellschaft an den Schriften der Anne Frank und an der Weißen Rose nicht vorbeikommen, deren sich „das Ausland“ schon lange angenommen hatten, so wurden die Jugendgruppen um Helmuth Hübener (Hamburg), Walter Klingenbeck (München) und Josef Landgraf (Wien) – allesamt „Rundfunkverbrecher“ – nicht den nachwachsenden Generationen zum Vorbild gegeben. Zu leicht hätte die Frage aufkommen können: Wenn diese jungen Leute wussten und handelten, warum dann nicht die Menschen gleichen und höheren Alters, die nach 1945 die Nachkriegsgesellschaften politisch und kulturell anführten?
Oppositionelle Jugendgruppen
Jürgen Zarusky hat außer über den Hübener-Kreis über die zwei weiteren ähnlichen christlichen Gruppen junger Männer geforscht. Im „Lexikon des Deutschen Widerstandes“ (Fischer-Verlag 1994) berichtet er: 1941 entstanden in Hamburg, München und Wien unabhängig und ohne Kenntnis voneinander kleine oppositionelle Jugendgruppen, die Auslandssender hörten und das Gehörte verbreiteten, in Flugblättern und Wandparolen für den Sturz des NS-Regimes wirkten. Es handelte sich jeweils um Vierergruppen männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 16 und 18 Jahren mit einem sich deutlich abhebenden, aktivistischen und frühreifen Anführer. In Hamburg war dies Helmuth Hübener, in München Walter Klingenbeck, in Wien Josef Landgraf. Die Mitglieder aller drei Gruppen kamen vorwiegend aus christlich geprägten Familien der Unter- und unteren Mittelschicht. Bei allen spielte das Abhören sogenannter „Feindsender“, insbesondere der Programme der BBC, eine entscheidende Rolle. Über eine ausformulierte politische Programmatik verfügte keine der drei Gruppen, jedoch setzten sie alle mehr oder weniger entschieden auf einen Sieg der westlichen Kriegsgegner, Hübener auch auf den der Sowjetunion.
Der Hamburger Verwaltungslehrling Helmuth Hübener war durch Kontakte zu Jugendlichen aus kommunistischen Elternhäusern zum Abhören der deutschsprachigen Programme der BBC und möglicherweise auch anderer Sender angeregt worden. Seit Ende April 1941 verfügte er über ein eigenes Empfangsgerät. Im Sommer 1941 lud Hübener jeweils einzeln, ohne dass sie voneinander wussten, seine Freunde Karl-Heinz Schnibbe und Rudi Wobbe, ferner Gerhard Düwer zum Hören der Auslandssender ein. Schnibbe und Wobbe gehörten ebenso wie Hübener der Hamburger Gemeinde der Mormonen an; Düwer war ein Arbeitskollege von der Hamburger Sozialbehörde, wo Hübener Lehrling war. Die Mormonen verstanden es im Gegensatz zu den meisten anderen christlichen Religionsgemeinschaften relativ gut, sich mit dem Regime zu arrangieren. Durch Schnibbes Bitte, Nachrichten von Sendungen, die er versäumte, für ihn mitzustenographieren, scheint Hübener dazu angeregt worden zu sein, das Gehörte zu Flugblättern zu verarbeiten, die er heimlich auf einer Schreibmaschine der Mormonengemeinde schrieb. Anfang August 1941 bewog er Schnibbe und Wobbe dazu, bei der Verteilung der Flugblätter in Briefkästen, Telefonzellen und Hausgängen der Hamburger Ortsteile Hammerbrook und Rothenburgsort zu helfen. Unabhängig davon gewann er auch seinen Arbeitskollegen Gerhard Düwer dafür. Die von Hübener hergestellten Flugblätter – insgesamt rund 60 mit einer Auflage von mindestens fünf Stück –, ferner zahlreiche kleine Handzettel, kontrastierten unter anderem die amtlichen Wehrmachtsberichte mit Nachrichten aus den Programmen der „Feindsender“, wandten sich gegen antireligiöse NS-Propaganda, kritisierten den als Jugendstrafe eingeführten „Wochenendkarzer“ oder brachten Spottverse auf Joseph Goebbels. In dem wegen seiner Verhaftung nicht mehr fertiggestellten Flugblatt „Wer hetzt wen?“ hob Hübener die defensiven Motive des amerikanischen Kriegseintritts hervor.
Anfang Februar 1942 wurde Hübener von seinem Vorgesetzten denunziert, der beobachtet hatte, wie er erfolglos einen Mitlehrling dafür gewinnen wollte, ein Flugblatt zur Verbreitung an Zwangsarbeiter ins Französische zu übersetzen. Am 11. August 1942 wurde Hübener in Berlin vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat und anderer Delikte zum Tode verurteilt. Seine drei Mitangeklagten Schnibbe, Wobbe und Düwer erhielten Gefängnisstrafen zwischen vier und zehn Jahren. Am 27. Oktober 1942 wurde Hübener in Berlin-Plötzensee enthauptet.
Walter Klingenbeck aus München entwickelte unter dem Eindruck der Sendungen von Radio Vatikan, die er bis Kriegsbeginn gemeinsam mit seinem Vater hörte, und der zwangsweisen Auflösung seiner katholischen Jugendgruppe schon sehr frühzeitig eine kritische Einstellung zum NS-Regime. Obwohl das Abhören von Auslandssendern im September 1939 verboten und mit drakonischen Strafen bedroht wurde, hörte Klingenbeck weiter Radio Vatikan, den deutschsprachigen Dienst der BBC und andere „Feindsender“. Im Frühjahr und Sommer 1941 erzählte er seinen Freunden Hans Haberl und Daniel von Recklinghausen von diesen Sendungen und lud sie zum gemeinsamen Abhören ein.
Klingenberg griff im Sommer 1941 den Appell der BBC auf, das V-Zeichen als Symbol des Sieges der Alliierten zu verbreiten, und brachte, unterstützt durch Recklinghausen, dieses Zeichen groß mit Lackfarbe an etwa 40 Gebäuden in München an. Er plante die Verbreitung von Flugblättern mit dem Motto „Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, sondern nur verlängern“ und arbeitete zusammen mit seinen Freunden, die nicht nur denselben katholischen Hintergrund hatten wie er, sondern auch seine Radiobastelleidenschaft teilten, am Bau eines eigenen Senders zur Ausstrahlung antinazistischer Propaganda.
Am 26. Januar 1942 wurde Klingenbeck, nachdem er sich leichtsinnigerweise mit der V-Aktion gebrüstet hatte, denunziert und verhaftet, kurz darauf auch Habers und von Recklinghausen. Der Volksgerichtshof verurteilte die drei am 24. September 1942 zum Tode, einen vierten, am Rande beteiligten Jugendlichen zu acht Jahren Zuchthaus. Während Haberl und von Recklinghausen am 2. August 1943 zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt wurden, wurde Klingenbeck am 5. August 1943 in München-Stadelheim hingerichtet.
Der Wiener Gymnasiast Josef Landgraf hörte seit Kriegsbeginn Sendungen der BBC, aber auch den von sozialistischen Emigranten geprägten Sender der Europäischen Revolution. Anfang September 1941 begann er, das Gehörte zu Flugblättern zu verarbeiten. Obwohl er bereits nach drei Wochen denunziert und festgenommen wurde, produzierte er auf der Schreibmaschine seines Vaters nicht weniger als 70 Flugschriften von einer halben bis zu einer Seite Umfang sowie etwa dieselbe Anzahl von Flug- und Klebezetteln.
Ähnlich wie Hübener hielt er der deutschen Kriegspropaganda die BBC-Meldungen über deutsche Verluste entgegen und verurteilte die antireligiösen Aktivitäten der NSDAP. Wie Klingenbeck nahm auch Landgraf die V-Aktion auf und proklamierte in einem seiner Flugblätter: „Die V-Armee hat lediglich die Befreiung von Hitler und seinem Krieg zum Ziel.“ Bei der Herstellung und Verbreitung der Flugblätter halfen seine Schulkameraden Ludwig Igalffy, Friedrich Fexer und Anton Brunner. Landgraf und Brunner wurden am 23. August 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, die anderen beiden Angeklagten zu acht bzw. sechs Jahren Gefängnis. Landgraf wurde ein Jahr später zu sieben Jahren Gefängnis begnadigt, Brunner erhielt in der Wiederaufnahme seines Verfahrens fünf Jahre Gefängnis.
Ein literarisches Denkmal
Von den drei jugendlichen Feindsenderhörergruppen ist nur die von Helmuth Hübener in einem bestimmten Umfang bekannt geworden – aber doch auch nicht wirklich. Günter Grass hat Hübener ein literarisches Denkmal gesetzt. Grass schrieb über ihn in seinem 68er-Roman „Örtlich betäubt“, und er zitierte einen Gedenkartikel aus der Gewerkschaftszeitung „Deutsche Post“, den ich damals geschrieben hatte. Als Grass‘ Buch erschien, löste es größte Aufregung aus, weil ein 17-jähriger Schüler darin das Verbrennen eines deutschen Langhaardackels als Protest gegen die Hinnahme des verbrecherischen Vietnam-Krieges der USA durch die westdeutsche Öffentlichkeit anpries. Der Schüler präsentierte eines Tages seinem Studienrat, der insgeheim hoffte, sein Lieblingsschüler würde ihn wegen seiner Vergangenheit als Jugendbandenführer (meinte sich Grass damit selbst?) zum Vorbild auserwählen, meinen Zeitschriftenartikel mit den Worten: „Das hat es gegeben. Da ist Ihre Jugendbande nix gegen. Über ein Jahr haben sie Flugblätter gedruckt und verteilt. Schon als Sechzehnjähriger fing er damit an. Nix von Frühanarchismus.“ Im weiteren Verlauf der Szene kommen der Lehrer und der Schüler auf den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) zu sprechen, auf seine hohe Nazifunktion als Auslandsrundfunkchef des Auswärtigen Amtes. Der Schüler sagt: „Den will ich nicht. Der stinkt doch. Wenn ich den sehe, im Fernsehen und so, könnte ich kotzen. Der, genau der hat den Hübener umgebracht, auch wenn der anders hieß, der ihn umgebracht hat.“
Grass und Hübener waren fast gleichaltrig. Die Gleichaltrigen von damals handelten sehr unterschiedlich: Rudolf Augstein wurde noch im Krieg Journalist und umgab sich später in der „Spiegel“-Redaktion mit den Leuten des Reichssicherheitshauptamtes, die dort Naziverbrechen, z. B. den Reichstagsbrand, leugneten oder in Taten der Linken umfälschten. Helmut Kohl wusste von nichts und tat nichts und lehnte sich angesichts der „Gnade der späten Geburt“ zurück, später rehabilitierte er die SS mit seinem Gang zum Friedhof Bitburg. Franz-Josef Strauß baute mit Hilfe der Waffen-SS und der Wehrmachtsgeneräle die Bundeswehr auf. Günter Grass meldete sich freiwillig zur Wehrmacht – was er nie verschwieg, was aber niemand ihm vorwarf! – und wurde dort zur Waffen-SS weitergereicht, wie Tausende auch. Letzteres verschwieg er leider lange. Aber Grass hat wenigstens auf jenen Gleichaltrigen aufmerksam gemacht, der handelte: So auf Helmuth Hübener. Über ihn hat kein Augstein geschrieben und kein Kohl und Strauß hat ihm einen Kranz gewidmet. Deren Generation hat den Jugendwiderstand 1933 bis 1945 verdrängt, weil er nachwies: Man konnte wissen und man konnte handeln.
Rothenberger lebte nach 45 unbehelligt in Hamburg
Ohne bestraft zu werden lebte bis 1959 auch Curt Rothenberger noch, mit bester Pension ausgestatteter Ex-Justizsenator von Hamburg. Er traute den Juristen in Hamburg nicht und sorgte dafür, dass Helmuth und seine drei Freunde vor den Volksgerichtshof in Berlin gelangten, wo eine Todesstrafe für Jugendliche wahrscheinlicher war. Das Hinrichtungsprotokoll besagt nichts darüber, was noch an jenem Tag in Plötzensee geschah. Kurze Zeit hintereinander wurden nach Hübener der 22-jährige Schriftmaler Rudolf Richter und sein Vater, der Arbeiter Gustav Richter (42 Jahre) ermordet. Der 2. Senat des Volksgerichtshofes hatte am 21. August 1942 die Todesurteile über Rudolf und Gustav Richter gesprochen. In der Begründung heißt es: „Der Angeklagte Rudolf Richter hat als Dienstverpflichteter in einem Rüstungsbetrieb seine Arbeitskameraden angereizt, durch Verminderung der Rüstungserzeugung zur Beendigung des Krieges beizutragen. Auch hat er marxistische Bücher und zersetzende Aufzeichnungen verbreitet […]“ Dem kommunistischen Arbeiter Gustav Richter warf die Anklage vor, dass er seinen Sohn nicht „anders erzogen“ und ihn in seinem Widerstand bestärkt habe.
Ein Mensch, der für die Zukunft gelebt hat
Die Frage, wieso ich mich seit Jahrzehnten um das Andenken Helmuth Hübeners bemühe, beantworte ich in Zeitzeugengesprächen mit einer Geschichte: Als Schüler las ich eine Reportage des kommunistischen Autors und Politikers der CSR Julius Fucik „Unter dem Strang“, geschrieben in Gestapohaft. Darin die Worte: „Die ihr diese Zeit überlebt, vergesst nicht. Sammelt geduldig Zeugnisse von den Gefallenen. Sucht euch einen von ihnen aus und seid stolz auf ihn als einen großen Menschen, der für die Zukunft gelebt hat.“
Ich suchte mir Helmuth Hübener aus.
Ebenfalls 17-jährig wurde 1941 der französische junge Kommunist und antifaschistische Widerstandskämpfer Guy Môquet von den deutschen Faschisten hingerichtet. In seinem Abschiedsbrief hat er etwas geschrieben, was auch von Helmuth Hübener stammen könnte. „17 ½ Jahre, mein Leben ist kurz gewesen, aber ich bereue nichts, außer, dass ich Euch verlassen muss“, heißt es darin. Der damalige Präsident Nicolai Sarkozy hat, nachdem ihm eine Schülerin diesen Brief vorgelesen hat, angeordnet, dass der Brief des jungen Kommunisten Guy Môquet jedes Jahr in allen Schulen vor Schulbeginn vorgelesen wird. Etwas Vergleichbares hat es in unserem Land nicht gegeben. Dabei würden sich die Texte von Helmuth Hübener sehr dafür eignen.