20 Jahre nach seinem Tod liegt Jassir Arafats Erbe in Trümmern

Der Traum vom Staat Palästina

Jassir Arafat war der erste Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Während der 2. Intifada im Jahr 2000 – dem palästinensischen Aufstand gegen die permanente Verzögerung der Staatsgründung Palästinas – wurde sein Amtssitz von israelischem Militär belagert. Immer enger zog das Militär die Belagerung bis hin zu seinem Schreibtisch. Immer machtloser wurde Arafat und zugleich immer hysterischer verlangten Militär und israelische Regierung, er solle das Ende der Intifada ausrufen. In diesen Monaten zerstob Arafats Traum, Gründer eines palästinensischen Staates zu werden.

Arafats Geburtsname war Abdel-Rauf al Qudwa al Husaini, er wurde im August 1929 als sechstes von sieben Kindern geboren. Sein Vater stammte aus Chan Yunis im Gazastreifen, der Stadt, die das israelische Militär heute dem Erdboden gleichmacht.

Er schloss sich mit 19 Jahren den Moslembrüdern an, die in dieser Zeit die wichtigste pro-palästinensische Organisation waren. Wie die gesamte Region lehnten sie den UN-Teilungsplan für Palästina ab. Im Krieg um die israelische Staatsgründung gelangte Arafat bis nach Gaza und hatte – wie Biographen beschreiben – ein einschneidendes Erlebnis, das ihn tief beeinflusste. Im Namen der Arabischen Liga verlangten ägyptische Offiziere von den Kämpfern, die Waffen herauszugeben. Es war nicht das letzte Mal, dass dies geschah. Die Staaten der Region hatten ihre eigenen Inte­ressen, die der Palästinenser standen dabei nicht im Vordergrund.

Ab 1949 studierte er ein technisches Fach, Ingenieurwissenschaften in Kairo. Mit einer solchen Ausbildung konnte man einen Beitrag zum Aufbau der Region leisten. Doch schien ihm bald die politische und militärische Tätigkeit wichtiger als das Studium.

1952 wurde er zum Präsidenten der Palästinensischen Studentenunion gewählt. Er blieb in dieser Funktion bis zu seinem Studienabschluss 1956.

Danach arbeitete er als Ingenieur im Ministerium für öffentliche Arbeit in Kuwait. Hier setzte er seine politische Arbeit fort. Eine palästinensische Gruppe unter der Führung von Arafat gründete am 10. Oktober 1959 die neue Bewegung „Fatah“ („Sieg – Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas“).

Anders als die religiös geprägten Moslembrüder wurde die Fatah als eine säkulare Organisation für die nationale Befreiung und den Aufbau eines demokratischen Staates gegründet. Das Vorbild war die Algerische Befreiungsfront, die im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1954 und 1962 gegen das französische Kolonialregime kämpfte.

Mitte der 1960er Jahre begann die Fatah Guerillaaktionen und Anschläge gegen Israel und etablierte sich als stärkste bewaffnete Organisation der Palästinenser. Als auf Initiative des damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) gegründet wurde, wurde Arafat unangefochten zum Vorsitzenden gewählt.

Die PLO ist die Dachorganisation der unterschiedlichsten Fraktionen und palästinensischen Organisationen. Im Rahmen von Nassers Politik des Panarabismus sollte die PLO die Vertretung des arabischen Volkes in Palästina werden. Ihr Vorsitzender Arafat wurde mit seiner Kufiya das Sinnbild des Wunsches nach einem Staat Palästina.

Wiederholte Kriege bestimmten die Entwicklung der Region – und auch die Entwicklung des Kampfes um einen palästinensischen Staat.

Der Sechstagekrieg war ein Wendepunkt in der Region. Wie im Unabhängigkeitskrieg eroberte Israel weitere palästinensische Gebiete – die Westbank und Gaza. Viele Menschen mussten fliehen oder lebten in den nächsten Jahrzehnten unter dem Besatzungsregime. Von Jordanien aus führten die Organisationen der PLO einen Guerillakrieg gegen Israel.

Der wichtigste Stützpunkt der Fatah lag in Karame in Jordanien. Hier kam es im März 1968 zu einem Gefecht zwischen israelischem Militär, Kämpfern der Fatah und jordanischem Militär. Der Stützpunkt der Fatah wurde zerstört, Arafat musste zwischenzeitlich das Lager verlassen, einen klaren Sieger aber gab es nicht.

Es folgten militärische Niederlagen. Im „Schwarzen September“ 1970 in Jordanien besiegte letzten Endes die jordanische Armee mit schweren britischen und US-Waffen die PLO, die Führung der PLO musste ihre Stützpunkte in den Libanon verlegen. Arafat selbst wich nach Kairo aus.

Auch im Libanon konnte die PLO ihre Stützpunkte nicht halten. 1982 besetzte die israelische Armee weite Teile des Landes und vertrieb die Fatah und andere Gruppen der PLO. Arafat musste sein Hauptquartier nach Tunesien verlegen.

Diese Niederlagen konnte den Mythos Palästina und den Mythos Arafat nicht besiegen. Mit den militärischen Niederlagen änderte die PLO unter Arafat ihre Strategie. Sie legte vermehrte Anstrengungen auf politische und diplomatische Kontakte.

Schon 1974 konnte Arafat einen enormen diplomatischen Erfolg erreichen. Am 13. November hielt er eine Rede vor der Generalversammlung der UN, in der er von einer Welt ohne Kolonialismus, Imperialismus, Neokolonialismus und ohne „Rassismus in all seinen Ausformungen, einschließlich des Zionismus“ sprach.

Die PLO erhielt als legitime politische Vertretung der Palästinenser Beobachterstatus bei der UN. Und am 22. November 1974 erkannte die Vollversammlung der UN in der Resolution 3236 das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung, Souveränität und nationale Unabhängigkeit an. Ein Versprechen, das 50 Jahre später weiter von seiner Einlösung entfernt ist als je zuvor.

Arafats Rede vor der UN, der Beobachterstatus für die PLO und die Resolution 3236 wären ohne den Oktoberkrieg/Jom-Kippur-Krieg, der Israel an den Rand der Niederlage gebracht hatte, nicht möglich gewesen.

Eine neue Krise brachte die Invasion des Irak in Kuweit und die Reaktion des Westens und der arabischen Staaten, vor allem der Golfstaaten. Die USA waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ließen keinen Versuch zu, eine Lösung ohne Krieg zu finden. Arafat versuchte zu vermitteln. Er unterstützte die Besetzung von Kuweit nicht, verurteilte sie aber auch nicht. Er rief zu einer „Arabischen Lösung“ auf – vergebens.

Später verkündete er sogar, dass die PLO den Irak unterstütze, und im Dezember rechtfertigte er die Invasion. Seine Unterstützung des Irak hatte massive Konsequenzen für Arafat und die PLO. Im August 1990 stellten die arabischen Länder ihre monatlichen Zahlungen von 43 Millionen US-Dollar an die PLO ein. Die Bankkonten der Palästinenser in Kuwait wurden eingefroren und die Gehaltszahlungen ausgesetzt.

Und dann kam das, was seinerzeit als Höhepunkt in Arafats Karriere galt: Der Friedensprozess. Mit den Jahren und im Rahmen der diplomatischen Bemühungen hatten Arafat und die PLO die Politik der Nichtanerkennung Israels aufgegeben. Am 13. September 1993 kam es zur Unterzeichnung der Prinzipienerklärung über die vorübergehende (palästinensische) Selbstverwaltung zwischen dem Staat Israel und der PLO in Washington. Friedensnobelpreise wurden verteilt, Arafat kehrte nach 27 Jahren im Exil nach Ramallah zurück und bildete in Gaza eine autonome Regierung, die Palästinensische Autonomiebehörde.

Was es nicht gab und bis heute nicht gibt, war ein unabhängiger palästinensischer Staat. Mit der Besetzung von Arafats Amtssitz während der 2. Intifada machte die israelische Regierung deutlich, wer das Sagen hatte.

Am 11. September 2003 fasste die israelische Regierung den Beschluss, Arafat auszuweisen. Mit einem Hubschrauber sollte er ins Exil nach Nordafrika gebracht werden. Nach dem Ausweisungsbeschluss gingen zehntausende Palästinenser protestierend auf die Straße. Arafat appellierte an die Bevölkerung, Widerstand gegen den Beschluss zu leisten. Er wolle „lieber sterben, als sich zu ergeben“.

Am 16. September 2003 ließen die USA eine Resolution des Weltsicherheitsrates gegen die Ausweisung Arafats an ihrem Veto scheitern. Deutschland enthielt sich der Stimme.

Vor 20 Jahren, am 11. November 2004, starb Arafat. Spekulationen über seine Ermordung mit Polonium-210 fanden keine offizielle Bestätigung. Seinen Wunsch, an der al-Aqsa-Moschee beerdigt zu werden, verweigerte die israelische Regierung. Der israelische Justizminister Josef Lapid kommentierte dies in einer bezeichnenden Sicht auf den „Friedensprozess“ mit den Worten: „In Jerusalem liegen jüdische Könige begraben, keine arabischen ­Terroristen.“

Im Scheinwerferlicht der UNO
Am 13. November 1974 trat der Mann, der von seinen Feinden drei Jahre zuvor bereits zu einer politischen Leiche erklärt worden war, vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Minutenlang applaudierten ihm stehend die meisten der Delegierten aus 140 Ländern der Welt. Im Scheinwerferlicht unter der großen Anzeigetafel für die Abstimmungsergebnisse, an dem Rednerpult, das sonst Präsidenten und Königen, Außenministern und Chefdelegierten vorbehalten ist, stand ein Mann, der ein Volk und eine Befreiungsbewegung repräsentierte, aber keinen Staat. Ein solches Privileg war vor diesem Forum niemand anderem zuteil geworden.
Arafat trug seine olivgrüne Uniform und das schwarz und weiß gemusterte Kopftuch. Aus Respekt vor dem hohen Gremium hatte er sich kurz zuvor in der Sanitätsstation des UNO-Gebäudes noch rasiert. Gegen das Scheinwerferlicht schützte er sich mit seiner getönten Brille. Unter dem Rand der Uniformjacke lugte eine Pistolentasche hervor und die Presse bekam Gelegenheit zu rätseln, ob darin auch wirklich eine Waffe gesteckt habe.
Viele UNO-Delegierte aus Afrika, Asien und Lateinamerika feierten den Repräsentanten eines Volkes, dessen Sehnsucht nach einem eigenen Staat, dessen Anspruch auf Selbstbestimmung sie nur zu gut verstanden. Hatten doch ihre Völker Jahrhunderte kolonialer Unterdrückung hinter sich, hatten doch viele von diesen Diplomaten einst persönlich in opferreichen Kämpfen um die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit gestanden. Die Vertreter der arabischen und der sozialistischen Länder sahen in Arafats Auftritt einen wesentlichen Schritt zur weltweiten Anerkennung der PLO und zur Bekräftigung des Anspruchs auf Teilnahme an internationalen Bemühungen um die Lösung des Nahostkonflikts. Und selbst Delegierte aus westlichen Ländern nutzten die Gelegenheit, durch ihren Beifall zu bekunden, was sie von der zionistischen und US-amerikanischen Behauptung hielten, der Mann da vorn sei nichts anderes als der Chef einer Terroristenbande.
Draußen befand sich die New Yorker Polizei im Großeinsatz. Auf den Dächern rings um das Hotel „Waldorf Astoria“, in dem man Arafat und seine Begleiter untergebracht hatte, waren Scharfschützen postiert. Auf den Straßen, an den Zugängen zur UNO-City, standen Polizeiwagen mit Wasserwerfern. Man hatte Arafat ein Dutzend Morddrohungen geschickt und er musste im Hubschrauber zum UNO-Gebäude geflogen werden.
An den Präsidenten der Vollversammlung gewandt, wie es die Form verlangt, nannte Arafat die Gelegenheit zu dieser Rede „einen Sieg für die Weltorganisation und für die Sache unseres Volkes“. Die Massen der Palästinenser lebten in einem „Besatzungskäfig“, doch sie verlören nicht ihren Stolz und ihren revolutionären Mut. Mit ihrem Kampf hätten sie der PLO Legitimität verliehen. Die PLO habe es sich zur Aufgabe gemacht, „die palästinensischen Menschen nicht nur für die gegenwärtigen Herausforderungen zu rüsten, sondern ihn für den Aufbau der Zukunft auszubilden“.
Den Vorwurf, dass sich die palästinensische Revolution des Terrors bediene, wies Arafat zurück: „Der Revolutionär unterscheidet sich vom Terroristen durch seine Motivation. Wer auf der Seite einer gerechten Sache steht, wer für die Freiheit seiner Heimat gegen Eroberung, Besatzung und gegen Kolonialismus kämpft, der kann nicht als Terrorist bezeichnet werden, sonst wäre ja das amerikanische Volk, als es gegen den britischen Kolonialismus die Waffe zog, ein terroristisches Volk gewesen, sonst hätte man den europäischen Widerstand gegen das Naziregime als terroristisch bezeichnen müssen, sonst wäre der Kampf der Völker in Asien, Afrika und Lateinamerika nichts als Terror.“
Mit einfachen Strichen entwarf er den UNO-Delegierten ein Bild von den Wurzeln des palästinensischen Problems im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. „Die Kolonialisten haben zivilisatorische und kulturelle Ideen als Vorwand benutzt. um ihre Eroberungen zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung benutzten sie auch, als sie Palästina mit zionistischen Einwanderungswellen überfielen. Der Prozess der Ausbeutung wurde verschleiert bei diesem Überfall: Das palästinensische Volk wurde zuerst diskriminiert und dann vertrieben. Damals benutzten die Kolonialherren ausgebeutete Habenichtse, die sie bei der Gründung der Kolonien vorschickten. Der internationale Kolonialismus und die zionistischen Führer missbrauchten die mittellosen, verfolgten Juden Europas zu diesem Zweck … Es besteht kein Unterschied zwischen Cecil Rhodes, als er Südostafrika kolonisieren wollte, und Theodor Herzl, als er den Siedlerkolonialismus auf dem Boden Palästinas vorbereitete.“
Arafat hinterließ bei seinen Zuhörern einen tiefen Eindruck durch die sorgfältige Differenzierung zwischen der Beurteilung des Zionismus auf der einen und des Verhältnisses zu den jüdischen Menschen auf der anderen Seite: „Wäre die jüdische Einwanderung nach Palästina mit dem Ziel erfolgt, dass die Einwanderer mit uns als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten leben wollten, dann hätten wir für sie Raum geschaffen im Rahmen der Möglichkeiten unserer Heimat, wie das mit zehntausenden von Armeniern und Tscherkessen geschah. Das Ziel der Einwanderung aber war gewaltsame Annexion unseres Landes, unsere Vertreibung und unsere Verwandlung in Menschen zweiter Klasse. Uns kann unmöglich jemand raten, wir sollten dies hinnehmen. Unsere Revolution fußt aber nicht auf Rassismus oder auf religiösem Fanatismus, sie ist nicht gegen die jüdischen Menschen gerichtet, sondern gegen den rassistischen Zionismus. In diesem Sinne ist unsere Revolution auch positiv für die jüdischen Menschen. Wir kämpfen dafür, dass Juden, Christen und Muslime mit gleichen Rechten und Pflichten ungeachtet der Rasse und der Religion miteinander leben können.“
Selten hat vor der UNO-Vollversammlung ein Redner gestanden, der seinen Ausführungen so viel persönlichen Nachdruck gab. „ Warum soll ich nicht träumen und hoffen, Herr Präsident? Die Revolution ist die Verwirklichung von Träumen und Hoffnungen. Lasst uns Traum und Hoffnung miteinander verwirklichen, dass ich mit meinem Volk aus der Verbannung zurückkehren kann“, rief Arafat aus. „Heute kam ich hierher. in der einen Hand den Ölzweig und in der anderen Hand das Gewehr der Revolution. Lasst den grünen Zweig nicht aus meiner Hand fallen!“
Redaktionell gekürzt und bearbeitet aus: Peter Jacobs, „Yassir Arafat“, Verlag Neues Leben, 1985

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"Der Traum vom Staat Palästina", UZ vom 8. November 2024



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