Bundestag beschließt Triage-Gesetz. Weitere Einsparungen im Gesundheitswesen geplant

Der Stärkere soll leben

Der Bundestag beschloss am 10. November das Gesetz zur Triage (Paragraf 5c Infektionsschutzgesetz – IfSG). 366 Parlamentarier stimmten für den Entwurf der Ampelkoalition, 284 votierten dagegen, fünf enthielten sich. Mit der Triage, die sich mit „Aussonderung“ oder „Selektion“ übersetzen lässt und ihren Ursprung in der Militärmedizin hat, entscheiden Ärzte über Leben und Tod. Wer wird an das letzte auf einer Intensivstation vorhandene Beatmungsgerät angeschlossen und darf weiterleben, welchem schwer Lungenkranken wird das Beatmungsgerät mit der sicheren Folge seines Todes verwehrt?

In der kalten Logik eines Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) ist es eine alternativlose, unumgehbare „Zuteilungsentscheidung“. Die Triage hält überall dort Einzug, wo medizinische Geräte, Operationssäle und ärztliches Fachpersonal knapp sind und nicht alle Patienten notfallbehandelt werden können. Noch ist sie auf die im Infektionsschutzgesetz benannten pandemischen Atemwegs- und Lungenerkrankungen beschränkt. Sozial- und Behindertenverbände aber gehen davon aus, dass im Gesundheitswesen fortan „darwinistisches Gedankengut“ neue Gesetze „zur Selektion der Stärkeren“ befördern werden, wie das „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“ in der Anhörung zum Gesetzesentwurf am 19. Oktober zu bedenken gegeben hat.

Das Bundesverfassungsgericht schrieb am 16. Dezember 2021 der Bundesregierung ins Stammbuch, „unverzüglich“ eine gesetzliche Regelung herbeizuführen, die alle von einer Triage-Entscheidung betroffenen behinderten Menschen vor Ausgrenzung bewahrt. Es berief sich dabei auf Artikel 3, Absatz 3 Grundgesetz („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“). Berlin ließ sich bis zur Vorlage eines Gesetzesentwurfs zehn Monate Zeit, um ihn dann ohne jede öffentliche Debatte mit großer Hast in zwei 45-minütigen Sitzungen am 13. Oktober und am 10. November durchs Parlament zu peitschen. Unter Ausblendung aller anderen Kriterien, ist nun für die Gewährung medizinischer Hilfe allein die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten“ maßgeblich. Explizit heißt es im neuen Paragrafen 5c IfSG, dass die Behinderung eines Menschen keinen Einfluss auf die Abwägung im Einzelfall haben soll. Gleichzeitig sollen aber Neben-, Begleit- und Vorerkrankungen („Komorbiditäten) bei der Bemessung der Überlebenschancen miteinbezogen werden.

Die Behindertenverbände, wie die Caritas-Behindertenhilfe, widersprachen dieser Gesetzesfassung, „da Menschen mit Behinderung, Menschen im Alter, Kinder und Jugendliche mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung und andere vulnerable Personengruppen, die beispielsweise unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden“, über die Einbeziehung der Komorbiditäten benachteiligt würden. Sören Pellmann (Partei „Die Linke“) wies in seiner Bundestagsrede darauf hin, dass bei der Entscheidung über Leben und Tod in Zukunft das Prinzip „Survival of the fittest“ den Ausschlag gebe.

Die Debattenredner der Ampelkoalition versuchten sich in ihren Beiträgen von jeglicher politischen und moralischen Verantwortung für die Ressourcenknappheit an Krankenhäusern freizusprechen. Exemplarisch: der Abgeordnete Till Steffen von den Grünen: Es handele sich um eine Ausnahmesituation, in der man nur die Wahl habe „zwischen zwei Entscheidungen, die beide falsch sind“, aber das Verfassungsgericht wolle eben eine Regelung. Auf die naheliegende Antwort, dass es gar keine Triage-Situationen geben würde, wenn die Intensivmedizin nicht durch die profitorientierten Krankenhausreformen der letzten Jahre kaputtsaniert worden wäre, kam kein Parlamentarier.

Von Oktober 2020 bis Oktober 2021, also in der Hochzeit der Corona-Pandemie, sank die Zahl der Intensivbetten mit Beatmungsgeräten von 27.000 auf 22.000, wie die „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (Divi)“ meldete. Die Lage im nächsten Jahr verheißt eine weitere Verschlechterung medizinischer Leistungen. In den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen klafft für 2023 ein zweistelliges Milliardenloch, das Lauterbach mit dem Abbau von 20.000 Pflegearbeitsplätzen, Umstellung auf „ambulante Maßnahmen“ und Erhöhung der Versichertenbeiträge stopfen will.

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"Der Stärkere soll leben", UZ vom 18. November 2022



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