Rede von Jörn Rieken (IG BAU) auf der Kundgebung der Friedenskoordination Berlin am 15. März am Brandenburger Tor

Der Sozialstaat wird nicht von außen bedroht

Jörn Rieken

Die Friedenskoordination Berlin hat am 15. März eine Kundgebung gegen die Grundgesetzänderung für Kriegskredite am Brandenburger Tor abgehalten. Dort sprach unter anderem Jörn Rieker, Mitglied der IG BAU. Der Gewerkschafter fordert, dem Mantra einer vorgeblichen Bedrohung des „Westens“ durch Russland zu widersprechen und klar zu benennen, wer den Sozialstaat tatsächlich bedroht. Wir dokumentieren seine Rede in voller Länge, geringfügig redigiert:

Werte Kollegen, liebe Friedensfreunde,

ich bin Mitglied der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) und auch im Vorstand des Bezirks Berlin, spreche hier aber nur als Mitglied.

Wir protestieren hier, da in wenigen Tagen das gewaltigste Aufrüstungsprogramm der deutschen Geschichte beschlossen werden soll. Als Gewerkschaften sind wir schon seit längerem dem Neoliberalismus ausgesetzt – Privatisieren und Deregulieren. Im Wesentlichen bedeutet das: Umverteilung von unten nach oben. Und dieses Ziel wurde konsequent umgesetzt. Zusammenhängende Produktionsketten wurden in Sub-Sub-Sub-Unternehmen zerschlagen, auch, um die gewerkschaftliche Macht der abhängig Beschäftigten einzuschränken. In der Baubranche sind wir davon besonders betroffen: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind dort keine Ausnahmen mehr, sondern eher die Regel.

Aber selbst diese dramatische Umverteilung von unten nach oben trug kaum zu weiterem Wirtschaftswachstum bei. Die Durchschnittslöhne haben noch nicht einmal das Niveau von vor der Corona-Krise erreicht. Bei Sub-Sub-Sub-Unternehmen in der Baubranche sind die Löhne sogar noch weiter gesunken!

Dieser offensichtliche Bankrott des Neoliberalismus befeuert nun den Militarismus. So befinden wir uns derzeit im Übergang vom Neoliberalismus zur Kriegswirtschaft. Oder, wie es die „Financial Times“ vor ein paar Tagen formulierte, die Bundesrepublik sei auf dem Weg, „einen Kriegsführungsstaat aufzubauen“.

Und das, obwohl die Ende 2024 veröffentlichte Bedrohungsanalyse aller US-Geheimdienste lautete (und die wurde noch unter der Präsidentschaft Bidens erstellt), Zitat: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit Streitkräften der USA und der NATO.“

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Jörn Rieken bei seiner Rede (Foto: Telegram / Gegen Krieg und Faschismus – Aktionsfotos und -videos)

Dieser öffentlichen Faktenlage entgegen wird mantraähnlich das Narrativ veröffentlicht, es gehe um „Verteidigung“. Tatsächlich aber, selbst nach Aussage des zuständigen Ministers, geht es um „Kriegstüchtigkeit“. Kriegstüchtigkeit aber ist nur ein anderes Wort für Angriffsfähigkeit. Mit dem Aufrüstungsprogramm geht die Bundesrepublik somit direkt in die Vorbereitung eines Angriffskriegs! Gemäß dem zuständigen Minister soll diese Fähigkeit bis 2029 erreicht werden. Gemäß dem Chef des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Kahl, ging der BND bisher davon aus, dass Russland bis 2029 weitgehend ausgeblutet sein würde – mit der Verwüstung der Ukraine als Kollateralschaden.

Daher die Aufrüstung für den ab 2029 geplanten Krieg. Wir kennen das aus der deutschen Geschichte! Es ist jetzt schon das zweite Mal, dass eine übergroße Koalition für Kriegskredite stimmt – und erneut für einen vorgeblichen „Verteidigungskrieg“ gegen Russland. Damals musste jeder Kriegskredit einzeln verabschiedet werden. Dieses Mal soll es Kriegskredite ohne Limit geben. Ohne Limit – das gab es noch nicht einmal im 1. Weltkrieg!

Hinzu kommen noch einmal 500 Milliarden für Infrastruktur. Aber um welche Art von Infrastruktur handelt es sich dabei?

  • Im Verkehrswesen geht es vor allem um Brücken, die panzertragfähig gemacht werden sollen.
  • Im Gesundheitswesen geht es vor allem um die Vorgabe, bis zu 1.000 Schwerverwundete pro Tag per Operation wieder einsatzfähig zu machen.
  • Im Bevölkerungsschutz sollen Bunker gebaut werden.
  • Im Heimatschutz sollen Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz und weitere Hilfsorganisationen auf den Kriegsfall vorbereitet werden.
  • Garniert wird das Ganze mit der geplanten Wiedereinführung der Wehrpflicht. Und dafür soll die materielle Infrastruktur aufgebaut werden.

Gegenwärtig ist eines der drängendsten Probleme der dramatische Mangel an bezahlbaren Wohnraum. 800.000 Sozialwohnungen fehlen in Deutschland. Derzeit fallen immer noch mehr Sozialwohnungen aus der Bindung als neue erstellt werden. In Berlin werden nur 4 Prozent alle neuen Sozialwohnungen von privaten Investoren gebaut. Es braucht also mit allerhöchster Dringlichkeit ein großes staatliches Investitionsprogramm für Sozialen Wohnungsbau.

Seit Jahren fordert die IG BAU ein solches Investitionsprogramm von 50 Milliarden Euro über vier Jahre. Ein fast lächerlicher Betrag im Vergleich zu den Konsumausgaben für Panzer, Kampfflugzeuge und Fregatten. Aufrüstung ist volkswirtschaftlich gesehen reiner Konsum, ohne jeden nachhaltigen Ertrag, dafür mit tödlichen Folgen! Beim vorgesehenen Infrastrukturprogramm hingegen ist nach Auskunft des zuständigen Ministers Wissing gerade der soziale Wohnungsbau ausdrücklich ausgenommen.

„Die Systemfrage ist gestellt … mit unserer Antwort als Bekenntnis zu sozialer Sicherheit“, sagt der Bundesvorsitzende der IG BAU. Allerdings wird auch in der IG BAU der Widerspruch zwischen Aufrüstung und sozialer Sicherheit, also angemessenen Löhne und bezahlbarem Wohnraum, nicht ausreichend thematisiert. Wie in anderen Gewerkschaften auch, insbesondere der IG Metall und ver.di, haben wir im letzten Jahr auf dem Gewerkschaftstag diesen Widerspruch thematisiert, und zwar mit der Forderung eines Initiativantrags auf 50 Milliarden für Sozialen Wohnungsbau statt 2 Prozent für Aufrüstung. Knapp die Hälfte der Delegierten haben den Antrag unterzeichnet. Es gab die mit Abstand längste Diskussion über einen Antrag auf dem Gewerkschaftstag. Auch, als sich die Antragskommission vehement dagegen aussprach, Investitionen in sozialen Wohnungsbau gegen militärischen Konsum in Form von Aufrüstung aufzurechnen: Nur eine knappe Mehrheit folgte der Empfehlung des Vorstands. Und damals ging es nur um 2 Prozent.

Aber genau darum geht es jetzt: Wir müssen die Diskussion in die Gewerkschaften tragen! Wir müssen dem Mantra einer vorgeblichen Bedrohung ausdrücklich und überall widersprechen! Die tatsächliche Bedrohung des Sozialstaats kommt nicht von außen – die tatsächliche Bedrohung ist der angestrebte Kriegsstaat und dessen Fähigkeit zum Angriffskrieg!

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

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