Die Blockade von Leningrad, Schostakowitsch und die Revision der Geschichte

Der Sieg des Lichts über die Dunkelheit

Von Jenny Farrell

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung aus „Marxistische Blätter“, Heft 4_2017. Zu beziehen bei Neue Impulse Verlag GmbH, Hoffnungstraße 18, 45127 Essen. Kontakt: Tel. 0201/23 67 57; E-Mail: info@neue-impulse-verlag.de

Der kalte Krieg gegen Russland – ehemals Sowjetunion – geht weiter. Dazu gehört auch die Entsorgung der zahlreichen Gräueltaten aus dem öffentlichen Bewusstsein, die Nazi-Deutschland an der sowjetischen Bevölkerung beging, sowie der heldenhaften Rolle dieses Volkes bei der Zerschlagung des Faschismus.

Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion und begann einen Völkermord, dem über 25 Millionen Russen zum Opfer fielen – die Hälfte der Toten des Zweiten Weltkrieges. Eines der grausamsten deutschen Verbrechen war die Blockade von Leningrad: Fast 900 Tage lang, vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944, war die Stadt eingekesselt, von allem Lebensnotwendigen abgeschnitten und ihre Einwohner systematisch in den Hungertod getrieben. Über eine Million Leningrader starben.

Begeben wir uns in unsere eigene Zeit: Im April 2017 findet in St. Petersburg – ehemals Leningrad – ein tödlicher Terroranschlag (von Gruppen statt von Staaten ausgeführt) statt. Nach ähnlichen Anschlägen in westeuropäischen Städten wurde die Nationalflagge des betroffenen Landes auf das Brandenburger Tor projiziert. Als Ausdruck der Solidarität. Jedoch nicht dieses Mal, weil St. Petersburg keine „besondere Beziehung“ zu Berlin habe, wie der in Westberlin aufgewachsene Bürgermeister behauptete.

Der Blockade von Leningrad wurde nicht nur in Büchern, sondern auch in der Musik gedacht. Dmitri Schostakowitsch, der damals in Leningrad lebende Sohn der Stadt, nahm sofort nach dem faschistischen Überfall die Arbeit an einer Sinfonie auf, um seinen Gedanken über das Leben des sowjetischen Volkes musikalischen Ausdruck zu geben, wie auch seinem Glauben an die Fähigkeit seines Volkes, die Faschisten zu besiegen. Diese siebte Sinfonie wurde unter dem Namen „Leningrader“ weltbekannt.

Die Sinfonie hat vier Sätze. Der erste hat den Titel „Krieg“ und beginnt lyrisch, ein friedliches Leben in der UdSSR vor der faschistischen Invasion beschreibend. Eine Solovioline wird durch eine ferne Trommel und das „Invasionsthema“ unterbrochen, das zwölfmal mit anwachsender Zahl von Instrumenten wiederholt wird, die immer lauter und schriller werden und ein tiefes Gefühl von Unbehagen schaffen. Militärischer Trommelklang durchsetzt diesen Abschnitt, der in einem Schrei von Schmerz und Entsetzen endet. Eine ruhigere Passage folgt – eine Soloflöte, dann ein Fagott, die Toten betrauernd. Die Begleitung ist zersplittert, wie die zerbrochenen Menschen, die sie beklagt. Dissonanzen dominieren.

Im zweiten Satz, „Erinnerung“, ändert sich die Stimmung in der Rückblende an glücklichere Zeiten, man hört Tanzmelodien, obgleich auch Traurigkeit mitschwingt.

Die Musik des dritten Satzes – „Heimatliche Weiten“ – bejaht das Heldentum des Volkes, seinen Humanismus und die große Naturschönheit Russlands. Der Satz kann als Dialog zwischen dem Choral, der trostspendenden Heimat, und der Solostimme, den Violinen, dem Einzelnen in seiner Qual verstanden werden. Sowohl der zweite als auch der dritte Satz drücken Schostakowitschs Überzeugung aus, dass dieser Krieg nicht die Empfänglichkeit für kulturelle Werte zerstört.

Über den letzten Satz, „Sieg“, sagte Schostakowitsch: „Meine Vorstellung des Sieges ist nicht etwas Brutales; es ist besser erklärt als der Sieg des Lichts über die Dunkelheit, der Menschlichkeit über die Barbarei, der Vernunft über die Reaktion.“ Der Satz beginnt mit der musikalischen Beschreibung arbeitender Menschen in Friedenszeiten, voller Hoffnung und Glück, als sie von den Trommeln und Geschossen des Krieges überwältigt werden. Die Musik marschiert, kämpft und widersteht. Der Sieg wird nicht mühelos errungen. Schostakowitsch beginnt mit einer Paukenrolle, die den langsamen dritten Satz beendet hat und fügt allmählich weitere Stimmen hinzu. Langsam bewegt sich die Musik mit Blechbläser­fanfaren und Paukenschlägen auf ihren Höhepunkt zu. Sie erzwingt ihren Weg in ein helles C-Dur – der aufstrebenden Tonart des Sieges. Doch in den letzten Klängen dieser großartigen Tonart schwingen auch traurige Töne mit. In voller Anerkennung der Wirklichkeit, des unvorstellbaren Leides des Krieges, kann die Sinfonie nicht in einfachem Triumph enden.

Schostakowitsch komponierte den größten Teil der Sinfonie in Leningrad während der Belagerung. Trotz seiner Einwände evakuierte die sowjetische Regierung die Schostakowitsch-Familie gemeinsam mit anderen Künstlern nach mehreren Monaten der Blockade. Die „Leningrader“ wurde am 9. August 1942 in der verhungernden Stadt aufgeführt. Die Partitur wurde über die feindlichen Linien in die Stadt geflogen. Das Orchester bestand nur noch aus 15 Musikern, weitere mussten von der Front geholt werden.

Galina Leljuchina, Klarinettespielerin bei dieser historischen Aufführung, erinnert sich an die Proben: „Im Radio wurde angesagt, dass alle lebenden Musiker aufgerufen waren. Es war schwer zu laufen. Ich litt an Skorbut und meine Beine taten sehr weh. Zuerst gab es nur neun von uns, aber dann kamen mehr Leute. Der Dirigent Eliasberg wurde auf einem Schlitten gebracht, so hatte der Hunger ihn geschwächt.“

Am 9. August 1942 war der Saal überfüllt, Fenster und Türen standen offen, damit die draußen Versammelten auch hören konnten. Die Musik wurde auf die Straßen und an die Fronten übertragen, um dem ganzen Volk Mut zu machen. Die Rote Armee vereitelte deutsche Pläne, die Aufführung zu stören, indem sie den Feind zuvor beschoss, um die zwei Stunden Feuerstille zu gewährleisten, die für das Konzert benötigt wurden.

Eine Blockade-Überlebende, Irina Skripatschewa, erinnert sich: „Diese Sinfonie machte einen großen Eindruck auf uns. Die Musik erregte ein Gefühl der Erhabenheit, eines Fluges … Gleichzeitig konnten wir den furchterregenden Rhythmus der deutschen Horden spüren. Es war unvergesslich und überwältigend.“

Fünfundsiebzig Jahre später bereiten sich NATO Truppen und Panzer (einschließlich deutscher) an der russischen Westgrenze auf den Krieg vor.

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"Der Sieg des Lichts über die Dunkelheit", UZ vom 23. Juni 2017



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