Von 1990 bis 2003, als die Agenda 2010 beschlossen wurde, sank die Mitgliederzahl der SPD um ungefähr 20 000 jährlich von 943 402 auf 650 798. Ausnahme war 1998, das Jahr der Kanzlerwahl Schröders, als sie lediglich stagnierte. Die Schrumpfung der SPD begann nicht mit der Agenda, wurde aber durch sie besiegelt. Allein im Jahr 2003 sank die SPD-Mitgliederzahl um über 43 000, dann im Schnitt um jährlich etwa 17 000 auf 432 704 Ende 2016. Zum ersten Mal seit 1990 erhöhte sich die Zahl der Mitglieder wieder 2017, im Jahr der Kandidatur von Martin Schulz um etwa 10 000 auf 443 152 bis Jahresende. Da die CDU leicht schrumpfte, wurde die SPD wieder größte deutsche Partei. Dank der Auseinandersetzung um die Große Koalition gingen die Eintritte Anfang 2018 weiter. Der Aufruf der Kampagne „NoGroKo“ an frühere Mitglieder und Wähler einzutreten, um sich an der Abstimmung gegen die GroKo zu beteiligen, erreichte einen kleinen Bruchteil der „Ehemaligen“.
Dem neoliberalen Umbau, der in der Agenda 2010 gipfelte, gingen Helmut Schmidts kapitalorientierte Sparpolitik und sein Reformabbau seit der Krise 1974/75 sowie Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ von 1982 als Schübe nach rechts voraus. Die mit der Einverleibung und Deindustrialisierung der früheren DDR gesteigerte Massenarbeitslosigkeit galt als Vorwand. Unterm Strich kostete diese Politik seit 1990 die SPD mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler. Für Konzernlenker, Wirtschaftsverbände, CDU/CSU und FDP war die Agenda 2010 jedoch die unverzichtbare Weichenstellung für die Herstellung deutscher Wettbewerbsvorteile angesichts der „Globalisierung“. Nicht wenige Stimmen aus Großkapital und Wirtschaftspresse würden eher eine CDU-Minderheitsregierung in Kauf nehmen, als in Koalitionsverhandlungen Abstriche an der Agenda 2010 hinzunehmen, die über deren kosmetische Abfederung hinausgehen würden.
Auch die SPD-Führung will nur kosmetische Abfederung. Daher war absehbar, dass bei Koalitionsverhandlungen nicht viel herauskommen konnte. Das spüren große Teile der SPD-Basis, egal, ob sie dahinter die Interessen des Großkapitals, das Kalkül der CDU/CSU, die SPD „über den Tisch zu ziehen“, oder beides vermuten. Eine starke Minderheit auf dem Parteitag im Dezember wollte die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen von vornherein ausschließen und glaubte den Beteuerungen einer „Ergebnisoffenheit“ der Sondierungen nicht. Juso-Chef Kühnert sprach von einer „tiefen Vertrauenskrise“ in der SPD. Die Parteibasis habe kein Vertrauen, „dass Entscheidungen an der Spitze in ihrem Sinne getroffen werden“. Auf dem Parteitag im Januar konnte die Führung den Beschluss zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen knapp durchsetzen. Die Urabstimmung wird zeigen, wie verbreitet das völlig berechtigte Misstrauen der SPD-Basis tatsächlich ist.
Die GroKo-Gegner haben sich hinter den Jusos gesammelt, die von wenigen alten „SPD-Linken“ (wie Hilde Matheis und Marco Bülow) unterstützt werden. Sie wollen den Weg der SPD in die Marginalität verhindern, den die Schwesterparteien in Griechenland, Frankreich und anderswo bereits gegangen sind. Ihnen schwebt eher ein Weg vor, wie ihn Jeremy Corbyn in Großbritannien, Bernie Sanders in den USA und die Sozialisten Spaniens eingeschlagen haben. Dass die „Erneuerung“ kein Spaziergang wird, wissen sie. Da die SPD-Wählerschaft gespalten sei, rechnet Kühnert mit weiteren Verlusten in der Wählergunst, egal, wie die SPD in der GroKo-Frage entscheide. In den sozialen Medien zeigen die GroKo-Gegner große Nüchternheit in Bezug auf die Reformierbarkeit der SPD. Vieles deutet auf künftige, weitere Umbrüche im Parteiensystem hin. Sie sind auch für außerparlamentarische Bewegungen relevant. Denn die SPD ist in Gewerkschaften, Sozialverbänden, Vereinen und Massenorganisationen der Lohnabhängigen immer noch stark verankert