Vermutlich hat jeder, der in den letzten Wochen das Radio angeschaltet hat, auf einem Weihnachtsmarkt war oder in einer Supermarktschlange gestanden hat, ihn gehört. Diesen Typ, der eigentlich nicht singen kann, einem aber Gänsehaut macht. Und das bei Weitem nicht nur dann, wenn er zu Klavierklängen mit den Worten beginnt: „It was Christmas Eve babe, in the drunk tank …“
Über Shane McGowan, den Gründer der Pogues, den Punk, den Junkie, den Poeten, den Alkoholiker, den Mann, der die irische Musik rettete, hat Julien Temple („Joe Strummer – The future is unwritten“) eine Dokumentation gemacht. Und sie handelt von weit mehr als von einer außergewöhnlichen Musikkarriere und dem Mann, der mir die besten 24 Konzertminuten beschert hat, die ich je erleben werde.
„Shane“ zeigt die Geschichte von Shane MacGowan, erzählt von ihm, Mitgliedern seiner Familie und engen Freunden. Und der Film erzählt die Geschichte des langen Kampfes Irlands um Freiheit und Selbstbestimmung, die kurze Geschichte des Punks und eine traurige von Drogen- und Alkoholmissbrauch.
Die Geschichte beginnt in einem Farmhaus in Tipperary, in dem Shane mit seiner Großfamilie im Sommer lebt, wo er mit fünf Jahren mit dem Trinken beginnt, den Schnaps zum Katholizismus dazu bekommt. Und ohne Guinness kann so ein Kind ja nicht schlafen. „Wenn du ihnen genug gibst, solange sie klein sind, werden sie es als Erwachsene nicht übertreiben.“ Shane wird das Gegenteil beweisen. Zum Glück lernt er in dem Haus aber neben dem Alkohol vor allem starke irische Männer kennen – von den Frauen ganz zu schweigen. Und so gerät der Ausflug in die Kindheit des Dichters auch in einen Ausflug in die Geschichte Irlands, kommentiert von Shane MacGowan im Gespräch mit dem ehemaligen Sinn-Féin-Vorsitzenden Gerry Adams. Wer also wissen möchte, warum auf dem Gruppenfoto der Sinn Féin/IRA-Delegation auf dem Weg zu den Verhandlungen in der Downing Street Shane MacGowan mit einem Glas Wein grüßt oder warum Bob Geldof abgesehen von seiner Musik und der Wohltätigkeitskacke ein Arschloch ist – in „Shane“ kann man es erfahren. Nebenher bietet der Film einen Crashkurs in irischer Geschichte, vom „Großen Hunger“ über den Osteraufstand, den Unabhängigkeitskrieg, den Bloody Sunday in Derry, den Deckenstreik bis zur Verhaftung der unschuldigen Frauen und Männer der Guildford Four und der Birmingham Six, denen Shane MacGowan in „Streets of Sorrow/The Birmingham Six“ ein Denkmal setzte – und das die BBC daher immer nur bis zur Hälfte ausstrahlte.
Zum Aufbegehren gegen die barbarischen Methoden des britischen Staats, gegen den anti-irischen Rassismus war der frisch daherkommende Punk genau das richtige. Regisseur Julien Temple studierte zu Beginn der 1970er Jahre an der National Film School in London, begann sich für die neue Subkultur zu interessieren und lieh sich eine 16-mm-Kamera, um Konzerte zu filmen – zum Glück, muss man sagen, denn so kann man heute einen babygesichtigen Shane MacGowan vor der Bühne bei einem Sex-Pistols-Konzert tanzen sehen und ist hautnah dabei, als der Punkpoet sein Genre entdeckt.
Irland hat Shane mit dem Alkohol bekannt gemacht, mit dem Punk kamen die Drogen hinzu. Und so schaut man in Temples Film auch dem Verfall eines Süchtigen zu. Es sind bittere Bilder, wenn MacGowan, früher das schreiende Leben selbst, beim Konzert zu seinem 60. Geburtstag passiv in einem Rollstuhl auf der Bühne sitzt oder wenn Johnny Depp ihm beim gemeinsamen Gespräch helfen muss, weil er sich allein kein Glas Wein mehr einschenken kann. Ist ein solches Verhalten Todessehnsucht? Nein, meint Schwester Siobhan: „Es ist das Gegenteil eines Todeswunsches. Er akzeptiert den Tod einfach nicht.“
Mit 15 wollte ich gern eine Punkband. Sie sollte heißen „Shane MacGowan is still alive“. Heute bin ich 42, habe keine Band und Shane lebt immer noch. Möge beides so bleiben. Sláinte, Shane!
Shane
Regie: Julien Temple
Mit: Shane MacGowan, Victoria Mary Clarke, Johnny Depp, Gerry Adams, Siobhan MacGowan u. a.
Ab 13 Januar auf DVD