Am Scheideweg: US-Dominanz oder Multipolarität

Der „Rest“ der Welt in Bewegung

Die reaktionäre Geldwelt jubilierte, als die Sowjetunion und der europäische Realsozialismus am Boden lagen. Im Siegestaumel berauschte sie sich an der Formel des US-Politologen Fukuyama, das „Ende der Geschichte“ sei erreicht, der allzeit beste Gesellschaftsentwurf habe endgültig triumphiert. Selbst in Zeiten bitterer Niederlagen hat eine aufrechte Linke den verlogenen Weihrauch als propagandistische Nebelkerze enttarnt. Indem sie die systemischen Widersprüche des Imperialismus aufzeigte und die Wertebehauptungen der transatlantischen Phalanx anhand ihrer jahrzehntelangen Agenda kriegerischer, antidemokratischer und neokolonialistischer Politikmanöver widerlegte. Der tragische Krieg in der Ukraine hat im Ehebett von NATO und EU für gestählte Beziehungen gesorgt. Die Rüstungskonzerne in Hochkonjunktur fressen das Geld, das zivilen Projekten entzogen wird. Zum Nachteil nicht nur der kriegführenden Länder werden Friedensvorschläge wie jüngst aus China torpediert.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Der „Rest“ der Welt in Bewegung - Multipolarität, US-Imperialismus - Positionen
Hartmut König

Eisern geschlossen stehe er in diesem Schicksalskampf, behauptet der „Wertewesten“. Aber allein in Deutschland spricht sich die Hälfte der Bevölkerung gegen Sanktionen und zügellose Waffenlieferungen aus. Schaut man weiter auf die Staaten jenseits der hagestolzen „Werteallianz“, so lehnt es gar ein übergroßer Teil der Weltpopulation ab, in den US-amerikanisch-russischen Stellvertreterkrieg hineingezogen zu werden. Man hat nicht übersehen, dass dem Krieg ein expansionistischer Vorkrieg vorausging, man leidet unter den Verwerfungen der Weltwirtschaft und fürchtet das Inferno, in das Washingtons verzweifeltes Ringen um geopolitische Dominanz führen könnte. Von den 158 Mitgliedstaaten der UNO haben lediglich die USA, die EU-Staaten, Australien, Kanada, Großbritannien, Japan, Norwegen, die Schweiz sowie Albanien Sanktionen gegen Russland verhängt. Der „Wertewesten“ steht recht einsam gegen den globalen „Rest“. Und siehe da: Wir erleben nicht das Ende der Geschichte, sondern ein Umdenken in der nichtwestlichen Welt. Analysten nennen es bereits „Westlessness“ oder „De-Westernisation“.

Auf dem jüngsten Gipfel der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) in Buenos Aires rief Argentiniens Präsident die 33 Mitgliedstaaten zur Einheit im Kampf für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit auf. Die USA beklagen bereits, dass sich 21 lateinamerikanische Staaten am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligen. Es geht um den Bau von Häfen, Autobahnen, Flugplätzen, Telekommunikationsanlagen. Washingtons Huawei-Hysterie verfängt dort nicht. In 24 Ländern der Region baut die Volksrepublik 3G- und 4G-Netze auf. Chinas Handel mit dem Subkontinent ist von 18 Milliarden (2002) auf 450 Milliarden Dollar (2022) gestiegen.

Wo jenseits der Westphalanx die US-Politik aus diversen Rücksichten nicht offen abgelehnt wird, ist das Bemühen um gleichgewichtige Beziehungen zu den USA und zur sich entwickelnden Weltmacht China sichtbar – eine Haltung, die auch viele Staaten in Südost- und Zentralasien trotz Gegendrucks nicht aufgeben. Dass auf chinesische Vermittlung Iran und Saudi-Arabien wieder Beziehungen aufnehmen ist ein fataler Misserfolg amerikanischer Politik und schafft günstige Perspektiven für den gesamten Nahen Osten. Im Gespräch ist die De-Dollarisierung des Ölgeschäfts. Indien hat seine Zusammenarbeit mit China und Russland deutlich verstärkt. Auch in Afrika intensiviert man die Kooperation mit der Russischen Föderation und zeigt sich an den Win-win-Offerten des Seidenstraßenprojekts interessiert. Zeitenwende: Die riesige nichtwestliche Welt ist in Bewegung geraten. Sie steht am Scheideweg zwischen klammernder US-Dominanz und multipolarem Einfluss auf die globale Entwicklung. Besinnen wäre auch hierzulande ein guter Rat. Den Kulturen der Welt den „westlichen Wertekanon“ aufprägen zu wollen bleibt so eitel wie erfolglos. Denn der Kanon ist ein Schweizer Käse. Der Laib sind die Parolen. Die Löcher sind die Malaisen. Die Völker schauen durch und sehen am Horizont eine bessere Welt.

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"Der „Rest“ der Welt in Bewegung", UZ vom 7. April 2023



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