Augenzeugen berichteten übereinstimmend, es sei am 12. Juni 1964 unerträglich schwül gewesen in dem Gerichtssaal des Justizpalastes in Pretoria, als Richter Quartus de Wet in nur drei Minuten sein Urteil in dem Verfahren „Der Staat gegen Nelson Mandela und andere“ verkündete. Es lautete für acht der neun Angeklagten auf „Schuldig“, einer wurde freigesprochen. Doch er erkannte für die acht nicht auf die Höchststrafe – Tod durch Erhängen –, sondern auf lebenslange Haft. Daraufhin sei ein Tumult im Gerichtssaal ausgebrochen, Zuschauer seien von ihren Sitzen aufgesprungen und nach draußen gehastet, um die draußen Wartenden zu informieren, die Männer auf der Anklagebank hätten sich befreit lachend umarmt. Einer der neun, Denis Goldberg, mit 31 Jahren der Jüngste unter ihnen, schilderte in seinen Erinnerungen den Augenblick so: „Meine Mutter war im Gerichtssaal und hatte im Tumult nicht hören können, was der Richter gesagt hatte. Sie rief: ‚Was ist?‘ Und ich rief zurück: ‚Leben! Zu leben ist wunderbar!‘“
Die Vorgeschichte
Am 21. März 1960 hatte die südafrikanische Polizei in Sharpeville das Feuer auf eine friedliche Demonstration Schwarzer für gleiche Rechte eröffnet. 69 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. In den Tagen darauf kam es landesweit zu Unruhen und Streiks. Das Apartheid-Regime antwortete darauf mit verstärkter Repression und dem Verbot der größten Widerstandsorganisation, des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), und dessen Abspaltung „Panafrikanischer Kongress“ (PAC). Nach dem harten Durchgreifen gegen alle Gegner des Apartheidregimes standen die Aktivisten vor der Aufgabe, den Widerstand fortzusetzen und neu zu organisieren. Sie gingen in den Untergrund, um der Verfolgung zu entgehen. Der Übergang zum bewaffneten Kampf wurde sowohl in der seit 1950 verbotenen Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) als auch im ANC intensiv diskutiert.
Der auch international hochgeachtete Albert Luthuli, seit 1952 Vorsitzender des ANC und 1960 mit dem Friedensnobelpreis geehrt, mahnte zu Geduld und gewaltfreiem Widerstand: zu zivilem Ungehorsam, Demonstrationen und Boykottaktionen. In intensiven Diskussionen gelang es aber Nelson Mandela, ihn schließlich zur Zustimmung zur Bildung eines bewaffneten Flügels der Befreiungsbewegung zu bewegen. Weil Luthulis Bedingung war, dass diese Organisation eigenständig und nicht Teil des ANC sein sollte, übernahm Mandela die Führung gemeinsam mit führenden Kadern der Kommunistischen Partei, unter ihnen deren Vorsitzender Joe Slovo. Am 16. Dezember 1961verübte Umkhonto we Sizwe (in den indigenen Sprachen Zulu und Xhosa „Speerspitze der Nation“), abgekürzt „MK“, ihre ersten, noch eher symbolischen Sabotageakte.
Ein geeigneter Ort wurde gesucht, wo die Führer von MK zusammenkommen konnten, um die Aktionen zu planen und zu koordinieren. Ein Weißer, der Kommunist Arthur Goldreich, erwarb die Liliesleaf-Farm in Rivonia, einer Ortschaft in der Umgebung von Johannesburg. Die Farm erstreckte sich über 10 Hektar mit einem Herrenhaus, verschiedenen Nebengebäuden und einer Gärtnerhütte. Mandela tarnte sich dort als Gärtner im Dienst der Familie. Doch in den Formen der illegalen Arbeit waren die MK-Verschwörer noch nicht geübt, die Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichend durchdacht. Die Goldreich-Söhne berichten, sie hätten Schulkameraden und Freunde zum Spielen zu sich nach Hause eingeladen. Die erzählten dann ihren Eltern von den ungewohnten Umgangsformen auf der Farm, wo Weiße und Nichtweiße gleichberechtigt miteinander umgingen. Auch der rege Besuchsverkehr von Menschen aller Hautfarben wurde von der Nachbarschaft registriert. Dieses Treiben blieb Polizei und Geheimdienst nicht lange verborgen, die ja auch mit der CIA und anderen westlichen Geheimdiensten mit Informationen versorgt wurden.
Der Erste der Gruppe, der den Sicherheitskräften des Regimes in die Hände fiel, war Nelson Mandela. Im Januar 1962 hatte er illegal das Land verlassen und verschiedene Länder bereist, wo er um Unterstützung für den bewaffneten Kampf geworben hatte, unter anderem Algerien, Äthiopien, Ghana und China. Auf der Rückreise wurde er am 5. August 1962 festgenommen. Ein in die SACP eingeschleuster CIA-Agent hatte den Häschern der Sonderabteilung der südafrikanischen Polizei, der für die Jagd auf Anti-Apartheid-Aktivisten zuständig war, die entscheidenden Hinweise gegeben.
Im November 1962 wurde Mandela zu fünf Jahren Gefängnis wegen Aufstachelung zu Unruhen und Auslandsreisen ohne Reisepass verurteilt.
Acht Monate später, am Nachmittag des 11. Juni 1963, schlugen die Sicherheitskräfte gegen die Lilieslief-Farm zu. Keiner der Anwesenden auf der Farm entkam, sie wurden – nach Hautfarbe sortiert – in Gefängnisse an unterschiedlichen Orten gesperrt. Arthur Goldreich und drei anderen gelang allerdings am 11. August die abenteuerliche Flucht aus einer Polizeistation, über die Grenze nach Botswana und dann weiter ins Exil.
Der Prozess
Die Razzia in Rivonia bedeutete einen schweren Schlag für den organisierten Widerstand: Auf einen Schlag hatten deren wichtigste Träger, der ANC, die Kommunistische Partei und MK, wichtige Köpfe ihrer Führungen verloren. Walter Sisulu, Govan Mbeki, Ahmed Kathrada, Raymond Mhlaba, Andrew Mlangeni, Elias Motsoaledi, Denis Goldberg, Elias „Rusty“ Bernstein und darüber hinaus Nelson Mandela, von dem bei der Durchsuchung des Anwesens Aufzeichnungen gefunden worden waren, wurden zu den Angeklagten in dem Prozess „gegen Nelson Mandela und andere“, der acht Monate lang – von November 1963 bis Juni 1964 – in Pretoria inszeniert wurde und als „Rivonia-Prozess“ in die Geschichte einging.
Die Dokumente, die auf der Farm gefunden wurden, belasteten die Angeklagten schwer: Neben Anleitungen zum Bau von Bomben waren es vor allem Mandelas Notizen über die „Operation Mayibuye“, in denen die Machthaber den Plan zur gewaltsamen Erhebung und zur Übernahme der Staatsmacht durch die „revolutionäre Massenaktion“ sahen. Also in ihrem Sinne nichts Geringeres als Hochverrat, ein Vergehen, auf das die Höchststrafe stand: Tod durch den Strang. Anders als vereinbart waren diese Notizen nicht vernichtet worden.
In der Anklage gegen Mandela heißt es: „Der Beschuldigte hat bewusst und böswillig Gewaltakte und Zerstörungen im ganzen Land geplant und organisiert. Sie waren gegen Behörden und Häuser kommunaler Beamter sowie Kommunikationseinrichtungen gerichtet. Das vorsätzliche Ziel ihrer Handlungen war es, in der Republik Südafrika Chaos, Unordnung und Unruhe zu stiften, und gemäß ihrem Plan sollte das Ganze noch durch tausende militärisch ausgebildete Guerillaeinheiten, die im ganzen Land an strategisch bedeutsamen Punkten eingesetzt werden sollten, verschärft werden.“
Die Angeklagten wurden von einem ihnen politisch nahestehenden Team von Anwälten verteidigt, das viel dazu beigetragen hat, den Antrag des Staatsanwalts Percy Yutar auf Verhängung der Todesstrafe zu Fall zu bringen. Von ihnen ist Bram Fischer besonders hervorzuheben.
Der 1908 in eine einflussreiche burische Familie Hineingeborene hatte sich schon 1940 der Kommunistischen Partei angeschlossen, der einzigen politischen Organisation Südafrikas, die die Rassentrennung ablehnte. Nach dem Rivonia-Prozess erklärte er sich bereit, die Führung der durch den Kaderverlust geschwächten Partei zu übernehmen und die verbliebenen Untergrundaktivisten zu sammeln. Aber schon im September 1964 wurde er nach dem „Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus“ verhaftet und 1966 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er erkrankte an Krebs, dessen Behandlung ihm von den Behörden verweigert wurde. Im April 1975 kam er aufgrund einer internationalen Kampagne frei und starb wenige Wochen später.
Die Verurteilten
Vor allen Männern auf der Anklagebank standen viele Jahre der Gefangenschaft, darunter auch etliche Jahre in Einzelhaft. Die meisten wurden auf die Kapstadt vorgelagerte Insel Robben Island deportiert. Am längsten musste Nelson Mandela in der Haft ausharren. Zwar wurden dem späteren Präsidenten mehrfach Angebote gemacht, er könne freikommen, wenn der ANC dem bewaffneten Kampf abschwöre, er ließ sich jedoch nicht auf Verhandlungen ein. So kam er erst im Februar 1990 frei und konnte die Verhandlungen mit der Regierung Frederik de Klerks beginnen, die schließlich zu den ersten freien Wahlen in Südafrika führten. Seine Präsidentschaft von 1994 bis 1999 war eine Zeit hochfliegender Hoffnungen für das Land. Zu seiner Beisetzung versammelten sich 2013 führende Politiker aus aller Welt, um den Mann zu ehren, der erst 2008 von der US-amerikanischen Liste gefährlicher Terroristen gestrichen worden war.
Walter Sisulu kam 1987 frei, Govan Mbeki, Ahmed Kathrada, Raymond Mhlaba, Andrew Mlangeni und Elias Motsoaledi im Oktober 1989. Der einzige Weiße unter den Verurteilten, Denis Goldberg, wurde nach den Prinzipien der Apartheid von ihnen getrennt und saß in Pretoria ein. 1985 wurde er durch eine internationale Kampagne freigekämpft.
Sie alle nahmen nach ihrer Befreiung wichtige Funktionen im ANC, der SACP und in der Gesellschaft ein. Keiner von ihnen hat die Ideale verraten, für die sie so lange eingekerkert waren. Auch Elias „Rusty“ Bernstein, der nach seinem Freispruch über die Grenze geflohen war, hat im Exil den Kampf gegen Rassismus, für Gleichberechtigung weitergeführt.
Die Wirkung
Der Schlag des Rassistenregimes hatte den ANC und die Kommunistische Partei geschwächt, weil nach den Verhaftungen auf der Lilieslief-Farm auch viele weitere wichtige Kader ins Ausland flüchten mussten, bevor ihre Verbindungen zu den Angeklagten ans Licht kamen. Doch deren Standhaftigkeit vor Gericht erwies sich als großer propagandistischer Erfolg.
Neue Kader füllten die gelichteten Reihen der Widerstandsorganisationen, die Bewegung verbreitete sich in bisher nicht gekanntem Maß.
Der Umkhonto-we-Sizwe-Veteran Ronnie Kasrils schreibt in einer Einschätzung des Prozesses: „Ziel der Staatsanwaltschaft war es, den vom ANC geführten Kampf als ‚terroristischen Angriff’ auf das weiße Südafrika und als kommunistische Verschwörung darzustellen. Für sie war es auch ein Propagandaprozess – ein ‚Schauprozess‘ –, der die Macht der Polizei und die Zerschlagung des ANC-SACP demonstrieren sollte. Die Angeklagten zerstörten dieses falsche Narrativ, nutzten den Prozess mutig als Plattform, um für die Politik und die Ziele der Bewegung zu werben, erklärten die gerechte Sache des Befreiungskampfes, die Brutalität und Ungerechtigkeit der Apartheid und die Gründe, warum die Bewegung keine andere Wahl hatte, als sich für den bewaffneten Kampf zu entscheiden.“
Es war die moralische Integrität der Gruppe, die entscheidend für den Aufschwung des Widerstands war. Leider waren aber viele, die mutig den gerechten Kampf der Jahre zwischen 1964 und 1994 geführt haben, den moralischen Herausforderungen der Freiheit nicht gewachsen. In den letzten 30 Jahren haben Korruption, Vetternwirtschaft und Eitelkeit dem Land und dem ANC schwere Schäden zugefügt. Moralischer Verschleiß hat zu dem Vertrauensverlust geführt, den die niedrige Wahlbeteiligung und der massive Stimmenverlust des ANC bei den Wahlen vom 29. Mai deutlich macht.
„Vor allem fordern wir gleiche politische Rechte, denn ohne sie werden wir auf Dauer benachteiligt sein. Ich weiß, dass dies für die Weißen in diesem Land revolutionär klingt, weil die Mehrheit der Wähler Afrikaner sein werden. Deshalb fürchten die Weißen die Demokratie.
Aber diese Angst darf der einzigen Lösung nicht im Wege stehen, die Harmonie zwischen den Rassen und Freiheit für alle garantiert. Es ist nicht wahr, dass das Wahlrecht für alle zur Vorherrschaft einer Rasse führen wird. Die politische Teilung aufgrund der Hautfarbe ist völlig willkürlich und wenn sie verschwindet, wird auch die Herrschaft einer Hautfarbe durch eine andere verschwinden. Der ANC hat ein halbes Jahrhundert lang gegen den Rassismus gekämpft. Wenn er triumphiert, wird er seine Politik nicht ändern.
Das ist es, was der ANC bekämpft. Sein Kampf ist ein echter nationaler Kampf. Es ist ein Kampf des afrikanischen Volkes, hervorgerufen durch eigenes Leiden und eigene Erfahrungen. Es ist ein Kampf um das Recht auf Leben.
Mein Leben lang habe ich mich diesem Kampf des afrikanischen Volkes gewidmet. Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft, und ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich schätze das Ideal einer demokratischen, freien Gesellschaft hoch, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Chancen zusammenleben. Es ist ein Ideal, für das ich zu leben hoffe und das ich erreichen will. Doch wenn es sein muss, bin ich für dieses Ideal auch zu sterben bereit.“
Aus der Verteidigungsrede Nelson Mandelas im Rivonia-Prozess