Gregor Sander hat genug von Besserwessis, die sich im Osten umschauen

Der Osten im Westen

Kennen Sie „Das Fest des Huhnes“? Jeder Ethnologiestudent bekommt diese österreichische Mockumentary, 1992 von Walter Wippersberg gedreht, zu sehen. Darin untersuchen afrikanische Forschungsreisende das überaus kuriose kulturelle Gebaren der Ureinwohner der Alpenrepublik.

Ob Gregor Sander den Kultfilm kennt, wissen wir nicht. Sein Roman „Lenin auf Schalke“ funktioniert aber ähnlich: Einfach mal den Spieß umdrehen. Sich vom Objekt der Ethnologie zu deren Subjekt wandeln. „Zurückgucken“ nennt das Schlüppi, der Freund des Ich-Erzählers. Schlüppi echauffiert sich zu Beginn des Romans über westdeutsche Autoren, Filmer und Journalisten, die „uns seit dreißig Jahren ununterbrochen beschreiben, filmen und betrachten. Die haben uns gedreht und gewendet wie die Schnitzel in der Pfanne und immer noch nichts begriffen!“ Schlüppi weiß auch schon, wo Sander sich umschauen soll: in Gelsenkirchen. Die Stadt im Herzen des Ruhrgebiets führe nämlich in allen Statistiken. „Also, von hinten. Ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, geringstes Pro-Kopf-Einkommen.“

Also steigt Gregor Sander in den ICE Richtung Blaue Stadt, dorthin, wo der Westen ärmer ist als der Osten. Er quartiert sich bei Zonengabi im Glück (BRD) und ihrem Freund Ömer ein, stilecht in einem alten Bergmannshaus. Erlebt kleine Abenteuer zwischen alten Abraumhalden und einer neuen Leninstatue. Beobachtet Absurditäten des Alltags in der Stadt der 10.000 Gefeuerten, deren Zechen, Kokereien und Stahlwerke längst geschlossen sind. Und berichtet davon in lockerer Tonlage, mit viel Humor und Selbstironie. Als hätte ihm Bill Bryson das Schreiben beigebracht.

Ihm fallen Gemeinsamkeiten mit dem Osten auf – die Menschen im Ruhrpott seien alle so nett, „Harte Schale, aber ganz weicher Kern, fast wie im Osten!“, sagt ihm Zonengabi – und Unterschiede. „Dafür, dass sie bei uns alles abgerissen haben, was nach DDR aussah, die Spannbetonschwimmhallen, Kaufhallen mit prima Asbestwelldach oder den Palast der Republik in Berlin, waren sie hier aber mit dem Aufbewahren ziemlich großzügig“, denkt sich Sander beim Anblick der vielen Fördertürme.

Anders als viele seiner westdeutschen Kollegen, die herablassend und schaudernd durch den Osten zogen, bleibt Sanders Blick auf Augenhöhe. Er respektiert die Menschen, denen er begegnet, macht sich über sie nicht mehr lustig als über sich selbst. „Lenin auf Schalke“ ist deshalb ein fein gezeichnetes Porträt der ärmsten Stadt Deutschlands geworden, unterhaltsam, aber auch lehrreich.

Nur der dumpfe Antikommunismus, der hier und da hervorblitzt, schmälert das Lesevergnügen. Der ostdeutsche Schriftsteller Gregor Sander ist eben längst angekommen im Westen.

Gregor Sander
Lenin auf Schalke
Penguin Verlag, 208 Seiten, 20 Euro

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"Der Osten im Westen", UZ vom 28. Oktober 2022



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