Man muss kein Komponist sein, um sich der Musik hingeben zu können. Und man muss kein Ökonom sein, um sein Haushaltsgeld richtig einteilen zu können. Auf jeden Fall muss man aufmerksam zuhören können, wenn eine international renommierte Ökonomin wissenschaftliche Einsichten präsentiert. Vor allem, da man die von anderen Ökonomen in letzter Zeit so jedenfalls nicht vorgetragen bekommen hat. Radhika Desai ist eine solche Ökonomin. Auf der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz referierte sie zum Thema „Der alte Kalte Krieg hat den Kommunismus nicht besiegt, aber der neue Kalte Krieg kann den Kapitalismus besiegen.“ Sie vertrat die These, dass der neue Kalte Krieg der USA ernster für Washington sei als der erste. Es stünden sich keine vergleichbaren Rivalen mehr gegenüber, sondern die USA seien geprägt von Abstiegstendenzen, während in China der Aufstieg dominiere.
Desai wurde in Indien geboren und sozialisiert und ist heute Professorin am Department of Political Studies und Direktorin der Geopolitical Economy Research Group der Universität Manitoba in Winnipeg, Kanada. Allein diese biografische Weitung ist vielversprechend, denn in ihr können Aspekte zum Tragen kommen, die einer eurozentristischen Verengung entgegenstehen und den Blick für weltweite Zusammenhänge schärfen. Und die spielen in der Ökonomie bekanntlich eine gravierende Rolle. Aber welche genau? Das ist die Frage, der Radhika Desai in den neun Kapiteln ihres bereits 2013 auf Englisch in London erschienenen Buches akribisch nachgeht. Ihre Analysen überraschen – jedenfalls jenen Leser, der seine ökonomischen Kenntnisse zumeist aus zweiter Hand hat. Nun bekommt er wieder wissenschaftliche Erkenntnisse und Einsichten vermittelt, die aber in manchem so gar nicht mit vertrauten Vorstellungen und Begriffen übereinstimmen wollen. Die Lektüre ist also spannend, im besten Sinne geradezu provozierend, weil Desai als Marxistin argumentiert. Und ihre Argumente wiegen.
Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die These, dass der Nationalstaat in der gegenwärtigen kapitalistischen Weltordnung nicht weggedacht werden könne. Die Produktionsleistung des Kapitalismus verdanke sich nicht allein dem rein ökonomisch verstandenen Markt, sondern einer „politökonomischen Dialektik“, also dem Zusammenspiel von Staat und Kapital und der Interaktion unterschiedlicher Nationalstaaten im Spannungsfeld von Konflikt, Konkurrenz und Kooperation. Ein Staat sei nur so stark wie „sein“ Kapitalismus, und der Kapitalismus nur so wie „sein“ Staat. Mit dieser Synopse ist gesagt: Es gibt keine „reine“ Ökonomie, denn das Ökonomische lässt sich nicht vom Staatspolitischen trennen, schon gar nicht von zwischenstaatlicher Geopolitik.
Bis zur sogenannten Finanzkrise von 2008 wurde auf fast allen Seiten geradezu das Gegenteil propagiert. Das Kapital präsentierte sich unabhängig und transnational und in den kapitalistischen Staaten wurde hemmungslos privatisiert. Dann kam der Crash, und die Banken mussten vom Staat ihre Rettung erbetteln. Nur Lehman Brothers blieb auf der Strecke. (2020 betteln wieder alle, und die ganz Großen bekommen natürlich auch das ganz große Geld.)
Desais These leuchtet ein und liegt ganz in dem Rahmen, der schon bei Marx eingeleuchtet hat: der Staat als Geschäftsführer der herrschenden Klasse. Daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert. Dann aber müssen Vorstellungen korrigiert werden, die auch heute noch allgegenwärtig sind. Etwa die Vorstellung von „Globalisierung“ oder die Theorie vom „Empire“ beziehungsweise von der „US-Hegemonie“. Der Titel des englischen Originals vermeidet Irritationen: „Geopolitical Economy: After US Hegemony, Globalization and Empire“. Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, in der Übersetzung zwischen „Imperialismus“ und „Imperium“ kategorial zu unterscheiden, denn nicht jedes imperialistische Land ist ein „Empire“.
Natürlich tritt das US-Imperium wie ein alles beherrschender Hegemon auf, aber es ist gar keine Hegemonialmacht wie einst das britische Empire. Das Erbe des britischen Imperiums konnten die USA in Wirklichkeit nie antreten, wiewohl sie diesem Ziel alles unterordneten. Doch: „Richtig ist, dass die USA zur Verfolgung ihrer imperialen Ziele eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sich indes als instabil und untauglich erwiesen.“ Ihre „äußerst schädlichen militärischen und wirtschaftlichen Aktionen“ waren teuer, aber letztlich ineffizient, argumentiert Desai. Selbst der US-Dollar verlor allmählich seine Bedeutung als „Weltwährung“. 2013 war bereits der Euro auf dem Markt, und, was 2013 noch nicht in die Analyse einfließen konnte: Staaten wie China und Russland handeln heute zum Teil mit Yen und Rubel, während die Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft weiter auf Talfahrt ist und für 2020 eine Staatsverschuldung in Höhe von 24.112,64 Milliarden US-Dollar erwartet wird.
Donald Trumps „Make America Great Again“ war ja eigentlich ein Offenbarungseid, der in allem bestätigt, was Radhika Desai in ihrem detailreichen Buch transparent macht. Ein Präsident, der so reden muss, herrscht nicht über ein Empire, auch wenn er sich wie ein Hegemon aufspielt. Das haben andere Präsidenten der USA aber auch so gehalten. Große Worte gehören in die Politik, wenn Kompensationen notwendig werden. Für Präsident Clinton hieß das Wort „Globalization“.
Radhika Desai entmythologisiert diese „Globalisierung“ sehr gründlich und zeigt, dass es sich bei ihr eigentlich nur um ein geostrategisches Schlagwort handelt. Global gehandelt und gewirtschaftet hatte der Kapitalismus schon immer, aber Clinton musste 1993 sein Amt unter Bedingungen antreten, die ihn geradezu nötigten, „den Ausbau des Handels mit den ‚großen Schwellenländern‘ (‚big emerging markets‘)“ zu forcieren, um der wachsenden „Besorgnis über die Wettbewerbsherausforderungen“ entgegenzutreten. Doch schon vor Clintons zweiter Amtszeit mutierte diese „Globalisierung“ mit dem Aufkommen der New Economy, der Ablösung der industriellen Massenproduktion von Waren durch weltweite digitale Dienstleistungen und Finanztransaktionen, zu einer Theory of Globalization. In ihr ging es vornehmlich darum, die zunehmenden Handels- und Kapitalströme der Kontrolle der Nationalstaaten zu entziehen und die Wirtschaft dem Finanzmarkt unterzuordnen. „Die Federal Reserve und die Anleihenmärkte wurden somit in einer nie dagewesenen Weise zu Schiedsrichtern des Schicksals der US-Wirtschaft.“
Wovon ist also die Rede, wenn von „Globalisierung“ gesprochen wird? Trump jedenfalls wollte von ihr gar nichts mehr wissen, auch nichts vom Freihandel, denn gebracht haben all diese Theorien und Strategien den USA nichts, was ihren Traum vom Empire genährt hätte. Stattdessen reiht sich Krise an Krise und Blase an Blase. Radhika Desai führt sie uns alle vor – Finanzblasen, Immobilienblasen; aber sie spricht dezidiert auch von einer Blase der „militärischen Überheblichkeit“. „Die Ereignisse zwischen dem September des Jahres 2001 und dem des Jahres 2008“ stellten „den letzten Versuch der USA dar, die Weltherrschaft zu erlangen“. Ein vergeblicher Versuch, denn die US-Militärmacht konnte zwar kleine Nationen dominieren, „aber sie konnte sich in keiner größeren militärischen Konfrontation durchsetzen, auch nicht in Korea und Vietnam“. Zudem vergrößere sich durch diese Kriege quantitativ und qualitativ die Zahl der Nationen, die sich der US-Politik widersetzten.
Mit dieser Feststellung kommt Desai auf ihre These von der Bedeutung der Nationalstaaten zurück. „Selbst die mächtigsten Staaten“ können „an der Erreichung ihrer Ziele durch andere Staaten gehindert werden, trotz deren geringerer Macht“. Der revolutionäre Skopus lautet denn für sie auch: Der Staat ist und bleibt für den Kapitalismus von zentraler Bedeutung und das ist zugleich „die politische Achillesferse des Kapitalismus“. Denn selbst Reformen sind dann nicht nutzlos, wenn sie es den Arbeitenden ermöglichen, „gerechtere Gesellschaften aufzubauen und durch multilaterales internationales Handeln auch (eine) gerechtere internationale Ordnung aufzubauen“.
Radhika Desai
Geopolitische Ökonomie
Die Nachfolgerin von US-amerikanischer Hegemonie, Globalisierung und Imperialismus
Mangroven Verlag, Kassel 2020, 405 Seiten, 27,– Euro