Zum angeblichen Giftanschlag

Der Nawalny-Code

Kremlkritiker müsste man sein. Dann würde sich die Bundesregierung höchstpersönlich darum kümmern, einen bei einer Erkrankung mit dem Flugzeug nach Deutschland zu holen. In der Berliner Charité wäre natürlich sofort ein Zimmer frei, Chefarztbetreuung selbstverständlich inklusive. Und die medizinischen Bulletins wären Thema in den Tageszeitungen und Nachrichtensendungen. Andere können von so viel Aufmerksamkeit nur träumen, etwa Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange, der Kriegsverbrechen der USA enthüllt hat und deshalb nun trotz schwerer Erkrankung in britischer Auslieferungshaft sitzt. Ihm droht die Einkerkerung bis zum Lebensende. Von irgendeiner humanitären Initiative der Bundesregierung hat man bisher nichts gehört.

Aber Alexei Anatoljewitsch Nawalny ist ein ganz anderer Fall. Giftanschlag des Kreml! Beweise gibt es dafür zwar keine, aber die Untersuchungsergebnisse der russischen Ärzte müssen natürlich gefälscht sein. Während dagegen die deutschen Ärzte selbstverständlich vollkommen glaubwürdig das von den Medien erbetene Resultat liefern. Ihre Kompetenz steht außer Frage, denn sie sind ja Deutsche – und die anderen, nun ja, Russen.

Einen wie Nawalny brauchen diejenigen, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Oberschurken auserkoren haben. Denn weil er die Geschäfte des Westens besorgt, stört es hierzulande auch nicht weiter, wenn er rassistische Scheiße ausrotzt. So etwa 2008, als er in seinem Blog im Internet der „nordkaukasischen Gesellschaft“ vorwarf, „den tierischen Gesetzen und Gebräuchen zu folgen“. Er sah „irgendwelche Basmatschi durch Moskau rennen“ und mit Maschinengewehren rumballern. Zumindest 2011 gehörte er zum Organisationskomitee der jährlich stattfindenden „Russischen Märsche“, zu denen sich unter anderem in Moskau immer wieder ultrakonservative orthodoxe Christen, Nationalisten, Hooligans, Neofaschisten und ähnliche Figuren zusammenrotten. Nawalny wiegelt ab: Man dürfe Demonstranten nicht als Rechtsextremisten abstempeln, nur weil sie den Hitlergruß zeigen …

Aber so etwas passt doch nicht ins Bild vom „Anwalt, Anti-Korruptions-Kämpfer, Kreml-Kritiker“, wie etwa „tagesschau.de“ am 21. August ein Porträt des feinen Herrn betitelte. Denn „In Russland kann niemand sicher sein“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ vier Tage später verkündet. Auch nicht „einer der talentiertesten Politiker“ („taz“ am 28. August) auf seinem „Feldzug gegen die Korruption“ („NZZ“, 29. August). Deshalb fordert „Deutschlandsender Kultur“ via Interview „härtere Sanktionen gegenüber Russland“.

Das ist das Stichwort für den unvermeidlichen Heiko Maas. Der Bundesaußenminister verkündete am 28. August nach einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen, es gebe „einige dunkle Wolken“ über den Beziehungen zu Moskau. „Der Fall Nawalny zeigt jedenfalls einmal mehr: Wir brauchen als EU eine prinzipienfeste, aber auch eine aktivere und stärker interessengeleitete Russlandpolitik als bisher.“

Genau. Rassistische Polizeimorde in den USA? Kein Thema. Aggression der Türkei gegen EU-Mitgliedstaaten? Bitte nicht ablenken. Zehntausende Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen im griechischen Flüchtlingslager Moria? Das behandeln wir später. Schiffe mit Hunderten geretteten Menschen im Mittelmeer, denen das Anlegen in europäischen Häfen verweigert wird? Kommt irgendwann mal vielleicht auf die Tagesordnung. Mehrere zehntausend durchgeknallte Esoteriker und Faschos auf der Straße in Berlin? Nicht mein Ressort. Hauptsache, es geht gegen Russland. Und en passant gleich noch gegen dessen Verbündete.

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"Der Nawalny-Code", UZ vom 4. September 2020



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