Ein schier unendliches Vergnügen gegen die Zumutungen

Der Mensch sollte lesen

Sophie Herbst

Ein Lob des Lesens in diesen Tagen anzustimmen scheint wie aus anderen Zeiten zu kommen. Aber es gibt Gründe, sich darauf einzulassen: Wenn die Kapitalistenklasse alles tut, um ihre Profite zu sichern, die Gefahren und Lasten der Pandemie der arbeitenden Klasse aufzubürden, wenn Grundrechte eingeschränkt werden, wenn man uns die Ostermärsche verbieten oder zumindest erschweren möchte, wenn uns allen die soziale Kälte als soziale Distanz verkauft wird, wenn man uns verunsichert und hilflos machen möchte, dann muss diesem Treiben Einhalt geboten werden.

Das eine ist die aktive, widerständige Teilnahme an Protesten, die den menschenverachtenden Charakter dieses Systems deutlich machen, die trotz Maske und Abstand uns allen das Gefühl geben sollten, dass niemand von uns allein ist, dass solidarisches Handeln gerade jetzt Gebot der Zeit ist. Wer die Maske abnehmen kann, zum Beispiel beim Lesen, verringert die Distanz, schafft sich selbst eine Nähe zu anderem, zu Menschen, Zeiten und Orten. Das „Lese-Glück“, das sich hoffentlich einstellt, muss ein Buch sein, auf das ich mich vorbehaltlos einlasse. Lesen ist ein schier unendliches Vergnügen, wer einmal oder besser mehrmals das Glück erlebte, sich in einem Buch zu verlieren, der kann darauf nicht mehr verzichten. Das Lob des Lesens ist keine Aufforderung, im stillen Kämmerlein zu bleiben, sondern mit den neuen Bildern im Kopf, mit neu gewonnenen Freunden an der Seite sich in die Kämpfe einzumischen. Lenin fordert 1920 von den jungen Kommunisten „Lernt, lernt, lernt, lest die große Literatur aus aller Welt und macht sie euch zu eigen“ und Walter Ulbricht forderte, das Kommunistische Manifest zusammen mit Goethes „Faust“ zu lesen.

Die hier abgedruckte Satire von Tucholsky ist ein gelungenes Beispiel, zu welchen Büchern man nicht greifen sollte, obwohl manchmal auch ein Schmöker helfen kann. Man beachte das Erscheinungsdatum, die Übergabe der staatlichen Macht an die Faschisten war für Hellsichtige abzusehen, Tucholskys Mahnung und Warnung ist aktuell.

Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke Band 3: „Narkose durch Bücher“, erstmals erschienen 1931


Kurt Tucholsky

Das Richtige ist: das intensive Buch

„Und wenn alles aus ist …“ Es ist niemals alles aus. Alles geht weiter – eine sehr schmerzliche Erfahrung, die man erst ziemlich spät lernt. Alles geht weiter: Was aber, wenn es doch nicht weiter geht, und man denkt, alles sei aus … was dann?

Manche betrinken sich. Es steht einer Dame nicht wohl an, sich zu betrinken – wir sind doch hier nicht in Amerika. Nun, also dann: eine neue Liebe? Nie wieder Liebe -! In den Romanen der neunziger Jahre vergaßen die Heldinnen im „Strudel des rauschenden und eleganten Vergnügungslebens“ ihren Kummer – aber wo strudelt es denn heute schon und noch? Dazu gibt es also nur ein Mittel, nein zwei.

Das eine ist: Narkose durch Bücher. Durch welche Bücher kann man das Leid betäuben? Das kommt auf die zu Betäubende an. Ist es eine sehr kluge, eine sehr gebildete, eine sehr intellektuell trainierte Dame, dann mag wohl sein, dass sie zu den Klassikern greift – zu deutschen oder zu französischen oder zu englischen; in diesen Büchern steht gewöhnlich immer ein Teil mehr, als man bei der ersten Lektüre herausgelesen hat. Man kann zum Beispiel in den Swift auch viel hineinlesen; das kann man nicht bei jedem Buch … Aber das ist noch nicht das Richtige.

Das Richtige ist: das intensive Buch

Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr loslässt – bis zum Ende nicht, bis zur Seite 354. Lies oder stirb! Dann liest man lieber: (Musterbeispiel dieser Gattung nicht etwa Wallace, der es ja nunmehr schon etwas reichlich grob treibt, womit nicht gesagt sein soll, dass er es nicht immer so getrieben habe.) – Musterbeispiel: Prinzgemahl von Philip MacDonald. Davon gibt es natürlich viele hundert Beispiele. Betäubt dergleichen -?

Ja, es betäubt: diese Gattung Literatur betäubt. So, wie es gegen Kopfschmerzen ein wirkliches Universalmittel gibt: nämlich starke Zahnschmerzen -; so wird bei der Lektüre dieser modernen Märchenbücher nur ein kleines Feld im Gehirn angestrengt, der Rest ist gelähmt, er ruht … die Sache mit Martin wagt sich nicht hervor … für den Augenblick ist sie nicht da …

Der Autor schleppt die Liebeskranke (gibt’s!) durch die Dschungel und durch die Unterwelten der großen Städte; es knallt und es brennt; die Heldin stürzt mit rutschendem Büstenhalter aus dem 44. Stockwerk, und unten wartet der Befreier, weiter! weiter! Die Leidende liest weiter: Sie liest, wenn sie allein ist, bei Tisch, zu Kaffee und den ganzen Nachmittag lang – und wenn sie noch so ein Buch hat, auch noch an diesen langen Abenden, die schlaflose Nacht werden wollen, die Stunden wollen nicht enden, der Schlaf kommt nicht … Er braucht auch nicht zu kommen. „Mit einem einzigen Blick übersah Jack die Situation. Er ergriff den Konservenbüchsenöffner, der auf dem Tisch lag und stürzte sich auf den Chinesen …“ Faul wird die Sache nur dann, wenn in diesem Rumor plötzlich ein Kerl auftaucht, der zufällig Martin heißt. Martin …

Dann lässt sich das Buch sinken, und der ganze Kram ist wieder da. Hat er sich nicht gemein benommen? Er hat sich gemein benommen. Hätte ich mich anders benehmen können? Ich hätte mich nicht anders benehmen können! Hätte ich ihm den Brief … hätte er mir den Brief … hätten wir uns die Briefe … äh!
Einer, der Martin heißt, darf also nicht vorkommen. Aber sonst sind diese Bücher bunte Oasen, in die die Leserin aus der Wüstenei flieht, wo man sie so grimmig enttäuscht hat. Und es muss nicht immer unglückliche Liebe sein (gibt’s!). Da ist die Rekonvaleszenz: die süße Mattigkeit der Zeit, in der sie alle gut zu einem sind und so leise und so rücksichtsvoll … ach, dass sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit …! Da sind dann mildere Bücher am Platze – aber gut geschrieben müssen sie sein und sanft und hinreißend, als Musterbeispiel: Thomas Raucat, Die ehrenwerte Landpartie. (Französischer Schriftsteller, der Schmöker erschien 1924, vielfach übersetzt und in hohen Auflagen. Anmerkung S. H.) Glatt wie Öl geht dir das ein, die Seiten wenden sich so lind um, die Erzählung fließt sanft dahin, unaufhaltsam, man muss nicht alles so genau verstehen, lesen genügt auch … die Zeit vergeht … die Krankheit entweicht … die Gesundheit wächst langsam … Kummer und Elend liegen grollend in der Ecke, niemand kümmert sich um sie, und das bekommt ihnen schlecht; denn das Unglück ist eine eitle Frau und will hofiert werden. Beachtet man es nicht, dann stirbt es.

Wer wird denn Kokain schnupfen, dieses Stimulans unserer Großmütter aus der Inflation! Bücher sind auch sehr schön. Aber es müssen die richtigen Bücher sein. Und so ist es denn das Beste, wenn die Dame den Herrn Martin gleich zu Beginn ihrer Beziehungen fragt: „Sag mal – was rätst du mir denn zu lesen, wenn wir uns gezankt haben?“ Wenn er so nett ist, sagt er’s. Das wäre das eine Mittel, um den Kummer zu vergessen.

Es gibt aber auch noch ein zweites. Arbeit ist auch nicht schlecht.

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"Der Mensch sollte lesen", UZ vom 2. April 2021



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