Warum die Philosophen mehr als nur interpretiert haben

Der Mensch ist das Subjekt seiner eigenen Entwicklung

Von Andi Nopilas

Der Mensch ist das Subjekt seiner eigenen Entwicklung

3,80 m x 4,20 m (14 Quadratmeter) große Bleiverglasung aus 18 Einzelelementen

Innen Echt-Antik-Glas rot, zitronengelb, kohlegelb, mittelgrau, hellgrau, weiß; partiell Ätztechnik auf Überfangglas, mit Kaltfarbe vorderseitig beschriftet und teils vorder-, teils rückseitig konturiert

Außenschutzverglasung aus Einscheibensicherheitsglas, mit Kaltfarbe innenseitig konturiert und beschriftet

Entstehung: Mai bis Dezember 2015

Ein entschlossen dreinblickender Mann hebt die rechte Faust und sieht auf ein gutes Dutzend Kapitalvertreter, Generäle der Wehrmacht, Reichskanzler von Papen und Hitler herab, die an einem Tisch die Notverordnungen aushecken. So zu sehen auf John Heartfields berühmtem Plakat für die Reichstagswahlen 1932.

Auf dem großen Fensterbild im Zwischenstock am Sitz des Parteivorstands der DKP fehlen die Nazigrößen und Kapitalvertreter – der Arbeiter, vier Meter groß und ebenso rot wie bei Heartfield, ist der gleiche. Nicht auf Plakatkarton, sondern aus Glas steht er oberhalb einer stilisierten Demonstration mit wutverzerrtem Gesicht hinter einem selenroten, gelb gerandeten Stern, einem Bein vor und ein Bein

„Selbständig denken

lernen bedeutet Aufklärung“

Abaelard

hinter einem kohlegelben Spruchband. Dessen schwarze Inschrift zitiert eine Passage aus Lenins Text „Noch eine Vernichtung des Sozialismus“: „Da die Historiker und Philosophen trotz ihrer reaktionären Ansichten diese Wissenschaft vorwärts gebracht haben, indem sie die Frage des Klassenkampfes noch weiter aufhellten, die dialektische Methode entwickelten und sie auf das gesellschaftliche Leben anwandten oder anzuwenden begannen: deshalb ist der Marxismus, der gerade auf diesem Wege eine Reihe gewaltiger Schritte vorwärts getan hat, die höchste Entfaltung der gesamten historischen und philosophischen Wissenschaft Europas.“

Das Band ist statisch und gerade gehalten und verzichtet auf die den flatternden Spruchbändern der mittelalterlichen Malerei innewohnende Verspieltheit. Beginnend hinter dem linken Bein des Arbeiters, umläuft es ihn im Uhrzeigersinn am Rand des gesamten Fensters, oberhalb der geballten Faust einmal unterbrochen, und umschließt zuletzt die linke Hand des Wütend-Entschlossenen, um hinter dem Oberschenkel des Beines zu enden, wo es seinen Anfang nahm. Auf ihrem Weg um den Proletarier herum – das Subjekt der Aufhebung des Klassenwiderspruchs – mahnt Lenins Bemerkung über die Philosophen seine Rezipienten zu differenzierterem Herangehen, als von Marx’ Feuerbachthesen deren 11. ausschließlich als Kritik an den Philosophen zu verstehen. Und dabei, gepackt von der dringenden, immer akuten Aufgabe der Veränderung der Welt, zu übersehen, dass diese Philosophen in ihrer jeweiligen Epoche revolutionäre Beiträge leisteten – diese Welt zu verstehen, zu ihrer Säkularisierung beizutragen, ihr letztlich so den Mythos zu nehmen und diesen durch Vernunft zu ersetzen. Die Erkenn- und die Veränderbarkeit der Welt ist die Grundlage allen marxistischen Denkens, und deshalb konnte Marx an diese Philosophen vor allem anschließen und sich nicht etwa vorwiegend abgrenzen, wie seine 11. Feuerbachthese oft missverstanden wird.

„Propaganda für die Freiheit des Geistes“

Voltaire

So handelt dieses mit nur drei Farben und zwei Grautönen auskommende Fenster von der Aufklärung. Es ist sozusagen das Spiegelbild der unzählige Male zitierten und auch in der bildenden Kunst oft reproduzierten Marxschen Feuerbach-These: „Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert – es kommt aber darauf an sie zu verändern“. Die Betrachtenden sehen sie im Fenster nur indirekt, weil es auf sie einwirkt, ohne diese These erwähnen zu müssen – denn hier kommen einige der angesprochenen Philosophen, die Aufklärer selbst, zu Wort. Im Fenster sind beispielhaft zentrale Gedanken Abaelards, Voltaires, Kants und Hegels auf der außen liegenden Schutzverglasung zitiert, womit sie gleichsam aus dem geschichtlichen Hintergrund abgeleitet, die rationalistische – später würde man sagen: historisch-materialistische – Basis für die nach ihnen kommende Zeit abbilden. Lenins Satz kreuzt diese Gedanken, unterbricht seinen Fluss aber für sie, obwohl er im Fenster vor ihnen liegt. Sein kluger Satz nimmt hundert Jahre nach seiner Entstehung optisch die gleiche Rücksicht auf die Aufklärer wie 1914 schriftlich in dialektischer Meisterschaft.

Vor der Hochphase der Aufklärung war es den Philosophen zunächst um den freien Geist, das Recht auf eine Haltung, zu tun, wenn auch meist noch nicht in frontaler Abgrenzung zu Theologie und Kirche. Aus der voraufklärerischen philosophischen Epoche kommt oben links mit Abaelard beispielhaft ein Logiker des 12. Jahrhunderts zu Wort: „Selbständig denken lernen bedeutet Aufklärung“, postulierte er. Sein Hauptwerk war die „Dialectica“, und doch ging es erst in Ansätzen um das heutige Verständnis der Dialektik. Abaelard wollte zunächst Logik in die Welt der Begrifflichkeit bringen und verschaffte als Methode zur Wahrheitsfindung dem Zweifel nachhaltige Bedeutung, wenn es um die Interpretation von Überliefertem ging. Gleiche Worte unterschiedlicher Verfasser können unterschiedliche Bedeutung haben, lehrte Abaelard.

Fünf Jahrhunderte vergingen bis zur Hochzeit der Aufklärung. Der Feudalabsolutismus begann sich zu überleben und wurde in der Folge von den Philosophen mit Hilfe des und gleichermaßen für das aufstrebende Bürgertum umgestoßen. Voltaire, wichtigster Philosoph Frankreichs und Stichwortgeber für die Französische Revolution, betrieb „Propaganda für die Freiheit des Geistes“. In Frankreich war die Verbindung zwischen Kirche und Adel besonders ausgeprägt. Voltaire war für die Kirche ein Atheist, was er selbst bestritt, nahm er als Deist doch die Schöpfung der Welt als Gottestat an, während er allerdings weiteren Einfluss Gottes auf das Schicksal der Menschen als Mythos ansah. Auch stellte er die sozialen Gegensätze nicht in Frage; dennoch setzte er sich für gleiche politische Rechte zwischen Armen und Reichen ein. Damit war Voltaire für das Bürgertum der geeignete Mann zur Durchsetzung seiner politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen.

„Tun, was wir als vernünftig ansehen“

Kant

„Das achtzehnte Jahrhundert war die Zusammenfassung, die Sammlung der Menschheit aus der Zersplitterung und Vereinzelung, in die sie durch das Christentum geworfen war; der vorletzte Schritt zur Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung der Menschheit, der aber als der vorletzte darum auch noch einseitig im Widerspruch steckenblieb“, schrieb Engels 1844. Denn die Unterstützung des fortschrittlichen Bürgertums für die aufklärerischen Bestrebungen wurde den Philosophen später, als sich der Kapitalismus als dem Bürgertum adäquate, sozioökonomische Form zu etablieren begann, nicht mehr derart zuteil wie noch zuvor. England hatte Ende des 17. Jahrhunderts eine bürgerliche Revolution hinter sich gebracht, Frankreich stand sie noch bevor. Immer waren die Widersprüche mit dem feudalabsolutistischen Adel (und dessen Verbündeter, der Kirche) verbunden mit der Befreiung von einengenden Kategorien aus Religion und deren Vorurteilen, mit der Freiheit wissenschaftlicher Denkansätze, mit der Ablehnung des Mythos, mit dem Recht auf Kritik und Vernunft. Immanuel Kant schlug im 18. Jahrhundert eine Brücke zwischen den Philosophen, die allein rationales Denken für ausreichend hielten, und jenen, die sich ihrerseits mit Erkenntnissen der Sinneswahrnehmung zufrieden gaben. Kants „Sapere aude“ (Wage zu wissen) vertiefte die Idee des Verstandes als Triebkraft der Erkenntnis; Aufklärung und Wissenschaft befruchteten sich seit jener Zeit gegenseitig. Dialektik ist bei Kant der Übergang von „reiner“ zu „praktischer“ Vernunft. Sein moralischer Ansatz, das zu „tun, was wir als vernünftig ansehen“, im Fenster mittig links angebracht, fordert auf, das eigene Handeln jeweils so zu gestalten, dass es zugleich Blaupause für ein allgemein gültiges Gesetz sein könnte. Das ist praktische Vernunft.

Hegel widersprach Kant ein halbes Jahrhundert später: „Was wirklich ist, ist auch vernünftig“, heißt es im Fenster unten rechts; dort, wo Lenins Satz endet. Kants bekannte Definition der Aufklärung als „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nimmt Hegel noch positiv auf, aber formuliert Unmündigkeit als gewachsen aus der allgemeinen (Un)Bildung. Ein jeder kann sich nur so weit bilden, wie er sich damit auf dem Bildungsstand seiner Epoche befindet; dafür sei keine Revolution nötig. Hegel geht zudem in der Dialektik einen anderen Weg als Kant, weil er die praktische Vernunft anders anfasst. Wo Kant einen ethischen Anspruch, den kategorischen Imperativ, formuliert und die Menschen auffordert, sich anhand moralischer Kategorien zu verhalten, ist für Hegel praktische Vernunft ein Spiegel der Wirklichkeit in der Gesellschaft – die Dinge sind vernünftig so wie sie sind, nicht wie sie sein sollen.

Die Aufklärung endete mit dem Sieg des Kapitalismus, der mit Napoleon durchgesetzt war. Napoleon war für Hegel, der die neue Gesellschaft erforschte, der wahre Vollender der Französischen Revolution, nicht etwa deren reaktionärer Schlussakkord. Einige Jahrzehnte später war es Karl Marx, der Hegels Idee von der bürgerlichen Gesellschaft als dem Ende der Geschichte widerlegte, und die Pariser Kommune und Oktoberrevolution traten den praktischen Beweis an. Denn: „… es kommt aber darauf an, sie zu verändern“.

Das Bild wird zur Mitte hin immer heller. Der um den roten Stern herum gezirkelte Kreis scheint das Licht zu fokussieren. Tatsächlich ist für diese philosophische Epoche in fast allen anderen Sprachen nicht von „Aufklärung“, sondern von „Erleuchtung“ die Rede. Erleuchtung ist

„Was wirklich ist, ist auch vernünftig“

Hegel

als Symbol vielleicht auch etwas näher am Gehalt des dahinter stehenden Kantschen Postulats nach „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. So stellen Freimaurerlogen zu Beginn eines Rituals zur freien Diskussion gern Kerzen auf, um zum Licht der Erkenntnis zu gelangen. Dass nun eine Glasmalerei vom Tageslicht lebt und mit ihr leuchtet, ist architektonisch zentral für jedes Buntfenster. Das Durchlicht wirft seine Farben auf die Betrachtenden und macht sie selbst während kurzer Zeit zu Objekten, die sich fragen müssen, wie sie ihre (Reste von) Unmündigkeit überwinden und wie sie es bewerkstelligen als „Mensch Subjekt ihrer eigenen Entwicklung“ zu sein, wie es Marx fordert. Das Glasbild am Sitz der Kommunistischen Partei in einem imperialistischen Land, in dem rechte, gegenaufklärerische Kräfte immer wieder neu gegen den Fortschritt und die Vernunft zu Felde ziehen, ist so überschrieben. Der französische Philosoph Denis Diderot formulierte ein Jahrhundert vor Marx: „Die anderen Menschen lassen sich durch ihre Leidenschaften hinreißen, ohne dass den Handlungen, die sie ausführen, die Überlegung vorausgeht. Solche Menschen gehen ihren Weg in der Finsternis, wogegen der Philosoph immer, auch in seinen Leidenschaften, erst aufgrund einer Überlegung handelt. Er sucht den Weg in der Nacht, aber ihm leuchtet eine Fackel voraus.“

Dieses Licht der Erkenntnis wirkt der Verdunklung, den obskurantistischen Kräften, entgegen, die in der Lage sind, immer wieder auch fortschrittliche Kräfte mit Mythos, Glauben, Personenkult und den diversen Formen des Irrationalismus zu beeinflussen. Die Wut des Arbeiters scheint diesem Gedanken der Aufklärung, der Erleuchtung, verpflichtet. Von solcher Wut könnten wir selbst inzwischen mehr gebrauchen. 1780 schrieb der Spätaufklärer Lichtenberg: „Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.“

Ist aber im 21. Jahrhundert die Bildsprache der Dreißigerjahre mit einem Arbeiter, den es angeblich so nicht mehr gibt, adäquat? Fakt ist, dass es ihn in Deutschland und weiteren entwickelten Staaten weniger, aber (in anderer Aufmachung) in anderen Teilen der Welt sehr wohl und immer mehr gibt, denn die Industriearbeit nimmt weiter zu. Es ist aber auch klar, dass der Weg von der Klasse an sich zur Klasse für sich und gleichzeitig die aufklärerische Philosophie mit ihrem widerspruchsvollen Verhältnis zur sozioökonomischen Entwicklung der Menschheit sich nicht in einem einzelnen Proletarier bildlich zusammenfassen lässt.

Einem solchen Bild kann es darum auch nicht gehen. Vielmehr ist es ein Anstoß, sich einmal mehr mit der Basis des marxistischen Denkens zu befassen und nicht mit den Klassikern allein. Und damit noch ein paar zusätzliche Gedanken in diesen weltanschaulichen Schatz aufzunehmen, den der Marxismus darstellt.

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"Der Mensch ist das Subjekt seiner eigenen Entwicklung", UZ vom 23. Dezember 2016



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