In Kolumbien könnte der Krieg enden – und die Gewalt weitergehen

Der letzte seiner Art

Von Günter Pohl

In einem Kommuniqué unter dem Titel „Dieser soll der letzte Tag des Krieges sein“ erinnerte das Sekretariat des Generalstabs der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksheer (FARC-EP) am 23. Juni an den Prolog des Agrarprogramms, das sich die Guerilleros von Marquetalia – einer der „Unabhängigen Republiken“ – 1964 gegeben hatten (siehe Kasten).

Man wird den kolumbianischen Konflikt nicht begreifen, wenn man sich weigert an seine Ursachen zu erinnern, und noch weniger, wenn man glaubt, die FARC und die diversen anderen Guerillagruppen seien als Selbstzweck entstanden. Der eigentliche Konflikt hatte mit der Ermordung des linksgerichteten Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán 1948 begonnen; die fünfziger Jahre wurden zur Gewaltperiode mit der Entstehung der ersten regelrecht organisierten Todesschwadronen. Immer wieder kam es zu schwersten Massakern an politischen Gegnern. Die später gegründeten unabhängigen Republiken waren Selbstverteidigungsinstrumente der Landbevölkerung; nach dem Sieg der Kubanischen Revolution traten in Kolumbien die USA – und mit ihnen die fatale Doktrin des „inneren Feinds“ – auf den Plan. Nun wurde der Gegner als ideologisch motiviert gesehen. Und als Reaktion auf die Gewalt trat er auch so auf: die FARC 1964 zunächst als bewaffneter Arm der Kolumbianischen KP; das „Nationale Befreiungsheer“ (ELN), das jetzt mit der Regierung über eine Beendigung der Kämpfe verhandelt, 1965 als der guevaristischen Fokustheorie anhängende, von Kuba unterstützte Guerilla. Dazu kamen im Laufe der Jahre andere Gruppen, die sich bis auf das maoistisch orientierte „Volksbefreiungsheer“ (EPL) spätestens 1991 aufgelöst haben.

„Wir sind Revolutionäre, die für eine andere Regierung kämpfen.

Aber wir kämpften für diesen Wechsel zunächst auf die am

wenigsten schmerzhafte Art für unser Volk: auf friedfertige Weise,

über den demokratischen Weg der Massen. Dieser Weg wurde

uns gewaltsam mit dem offiziellen faschistischen Vorwand,

so genannte „Unabhängige Republiken“ zu bekämpfen, versperrt.

Und weil wir Revolutionäre sind, die auf die eine oder andere

Weise die historische Rolle annehmen, die uns aufgetragen ist,

mussten wir den anderen Weg suchen: den revolutionären,

bewaffneten Weg des Kampfes um die Macht.“

52 Jahre nach der Gründung der FARC haben sich die Unterhändler von Guerilla und Regierung im wichtigsten Unterpunkt der Verhandlungen, die nach längeren geheimen Vorgesprächen am 19. November 2012 in Havanna offiziell begonnen hatten, auf eine beiderseitige definitive Beendigung der Feindseligkeiten, eine Vereinbarung über Sicherheitsgarantien für die zu demobilisierenden Guerilleras und Guerilleros, eine Bekämpfung des Paramilitarismus und einen Verzicht auf die Waffen geeinigt, womit „die Türen für das Schlussabkommen in relativ kurzer Zeit offenstehen“.

Denn das eigentliche Schlussabkommen steht noch aus. Vor der Einigung des 23. Juni waren vier der sechs Ziele, mit denen man im November 2012 als Ergebnis der Vorverhandlungen an die Weltöffentlichkeit gegangen war, Stück für Stück ausverhandelt worden: integrale Entwicklung im landwirtschaftlichen Raum (1), Politische Teilhabe der Opposition (2), illegaler Drogenanbau (4), Kriegsopferentschädigung (5). Nun ist Punkt 3, „Ende des Konflikts“, unter Einfügung des wichtigen Plans für geschützte ländliche Zonen, in denen die Demobilisierten zunächst leben können, abgeschlossen worden. Punkt 6 „Umsetzung, Kontrolle und Bestätigung durch das Volk“ war über die Jahre immer wieder Gegenstand der Debatten und ist es auch noch – Referendum oder nur eine parlamentarische Absegnung oder gar eine verfassunggebende Versammlung wie nach dem Friedensschluss 1991 mit M-19, Quintín Lame, PRT und Teilen des EPL? Unter ein finales Abkommen werden dann die Unterschriften von Juan Manuel Santos und Kommandant Rodrigo Londoño alias „Timoleón Jiménez“ kommen, am dann „letzten Tag des Krieges“. Auch wenn die Welt den 23. Juni bereits als Friedensschluss ansieht.

Weder die FARC noch der Staat wurden besiegt, und so ist das jetzige Waffenstillstandsabkommen „Produkt eines ernsthaften Dialogs zwischen zwei Gegnern, die sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang nicht besiegen konnten (…) Deshalb kann die Vereinbarung nicht als Unterwerfung der einen unter die andere gewertet werden“, stellen die FARC völlig richtig fest und danken in dem Kommuniqué den Garantiestaaten Kuba und Norwegen für die Hilfe bei der Überwindung zu lösender Probleme.

Aber sie weisen auch auf Widersprüche hin wie den, dass der neue Polizeikodex den Vereinbarungen von Havanna widerspricht oder dass nach wie vor die politische Opposition Zielscheibe der Gewalt von Militär und Polizei ist. Die auf Aufstandsbekämpfung gedrillten Streitkräfte müssten nun Aufgaben bei Frieden, Aussöhnung und Entwicklung übernehmen: „Sie waren unsere Gegner, aber nun müssen wir Partner für das Wohl Kolumbiens sein!“ Würden statt für den Militärapparat die Dollarmillionen für den Frieden gegeben, dann wäre das allein eine Frage des Willens und einer neuen Prioritätensetzung, folgern die FARC.

Die FARC selbst werden sich nach erfolgtem Friedensschluss zu einer politischen Bewegung formieren, die zur Einigung der demokratischen Kräfte, die sich in Opposition zum aktuellen Modell sehen, beitragen will. Sie setzen dabei sicher auf die Mobilisierungskraft der „Marcha Patriótica“ und auf die Hunderttausende Unterstützerinnen und Unterstützer im ganzen Land, ohne die eine bewaffnete Aufstandsbewegung nicht jahrezehntelang einem derartigen Militärapparat und dessen jeweils modernster technologischer Unterstützung aus den USA und Israel hätte trotzen können. Dennoch: eine erfolgreiche Teilnahme an Wahlen würde neben einem verbreiterten Bündnis – zu dem auch die Kolumbianische Kommunistische Partei gehören würde, deren stiller Beitrag zum Verständigungsprozess eines Tages gewürdigt werden wird – diverse Grundlagen brauchen. Dazu braucht es einen fairen Zugang zu den Medien und die Selbstverständlichkeit, seine Meinung sagen, kandidieren oder auch an einer Demonstration teilzunehmen zu können, ohne Gefahr zu laufen dafür verhaftet, verschleppt oder erschossen zu werden. Neuntausend (!) politische Gefangene sitzen in Kolumbiens überfüllten Gefängnissen ohne dass die Weltöffentlichkeit davon auch nur Notiz nehmen könnte, weil ihr regionales Interesse medial auf ein Dutzend Regimegegner aus Venezuela oder Kuba gelenkt wird. Weniger als ein Drittel der Gefangenen sind FARC- oder andere Guerilleros, was zeigt, dass es in Kolumbien vor allem um die Kriminalisierung jeden Widerstands gegen die Oligarchie und die dort vorwiegend im Bergbau und beim Landgrabbing tätigen transnationalen Konzerne geht.

Also braucht die aus den dann demobilisierten Kämpferinnen und Kämpfern zusammengesetzte Organisation vor dem Hintergrund der kolumbianischen Geschichte, in der sich die Oligarchie bislang kaum einmal an Vereinbarungen gehalten hat, Schutz. Und selbst wenn das dieses Mal geschähe, wäre da immer noch das Problem marodierender Banden des noch immer aktiven Paramilitarismus. Das Beispiel von etwa 5 000 ermordeten Mitgliedern der „Unión Patriótica“ nach den Vereinbarungen von 1984 spricht Bände. Dass eine kolumbianische Regierung nun erstmals eine umfassende Bekämpfung des Paramilitarismus schriftlich zugesagt hat, ist insofern ein Novum, als dass sie damit ihre tausendfach belegte Verstrickung in dessen Verbrechen mindestens indirekt zugibt.

Um zu einem dauerhaften Frieden zu kommen, haben sich Regierung und Guerilla zum einen auf einen Mechanismus von Überwachung und Überprüfung geeinigt, dem Regierung, FARC und UN-Repräsentanten aus Lateinamerika angehören sollen; zum anderen soll es 23 „Übergangszonen zur Normalisierung“ geben. In diesen soll den Guerrilleros die Möglichkeit gegeben werden sich mittelfristig in das zivile Leben einzufinden. Gleichzeitig werden die FARC-Mitglieder, die für Aufgaben im Zusammenhang mit dem Friedensschluss Ortschaften besuchen, staatlich geschützt. Die Zonen selbst werden von einem einen Kilometer breiten Sicherheitsring umgeben sein, der ausschließlich von den UN-Kräften betreten werden darf.

Lange war unklar, was unter dem Begriff „Dejación de las Armas“ zu verstehen ist. Man kann ihn als Verzicht des Gebrauchs von Waffen interpretieren, aber auch als Übergabe ansehen. Nach den am 23. Juni veröffentlichten Beschlüssen zu urteilen, haben sich die FARC nun doch auf eine vollständige Abgabe der Waffen eingelassen. Sie hatten zuvor auf das Modell des Nordirland-Konflikts verwiesen, wo als Sicherheitsbedingung nicht alle Waffen übergeben wurden. Die Waffenabgabe wird gestaffelt vor sich gehen: dabei werden neunzig Tage nach endgültigem Friedensschluss 30 Prozent, nach 120 Tagen weitere 30 Prozent und nach 150 Tagen die restlichen 40 Prozent abgegeben sein. Das hat zum einen logistische Gründe, zum anderen aber werden die Teilschritte auf diese Weise gewiss mit den realen Fortschritten bei der Annäherung abgeglichen, um sich Reaktionsmöglichkeiten offen zu halten. Dabei werden als Störungen gar nicht einmal in erster Linie Kampfhandlungen zu erwarten sein, sondern die gezielte Tötung einzelner Demobilisierter oder der Guerillanähe verdächtigter Aktivistinnen und Aktivisten aus den gesellschaftlichen Kämpfen. In den letzten Wochen waren die Bauern massiv auf den Straßen, und es ist häufig zu Übergriffen der Staatsgewalt gekommen.

Dass es nach all den Jahren des Krieges jetzt zu einem bedeutenden Schritt Richtung Frieden kommen könnte, hat auch mit einem „Druck“ zu tun, mit dem so jahrzehntelang nicht zu rechnen war. Sowohl Regierung als auch Guerilla Kolumbiens sind nicht davon unbeeinflusst geblieben, dass in den Jahren der Regierungswechsel in Lateinamerika, konkret natürlich in den Nachbarländern Brasilien, Venezuela und Ecuador, die Völker sahen, dass über Wahlen Regierungswechsel auch nach links machbar waren. Dass Regierungswechsel nicht Machtwechsel sind, wenn die Veränderungen nicht auch auf die Besitzverhältnisse übergreifen, ist marxistisches Grundwissen, aber die konkrete Erfahrung muss wohl von jeder Generation neu gemacht werden.

Mehrere Präsidenten der links regierten Staaten empfahlen den FARC sich aufzulösen, darunter Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa und José Mujica. Auch in Kolumbien, so die These, müsse ein Regierungswechsel auf „demokratische“ Weise möglich sein, wenn der Krieg erst aufhört – was von der falschen Annahme ausgeht, die kolumbianischen Guerillas wären der Grund für die Repression im Land.

Nun, wo die Linksregierungen auf die eine oder andere Art verschwinden (gestürzt, abgewählt oder auch indem sie sich von linker Politik verabschiedet haben), ist diese Idee einer Zerreißprobe ausgesetzt. Es sei denn, die lateinamerikanische Integration in Form von CELAC oder UNASUR wirkt derart nachhaltig auch in die Rechtsregierungen hinein, dass ausgerechnet sie Kolumbiens Oberschicht zu einem neuen Denken bewegen könnten. Es spricht mehr dagegen als dafür.

Unabhängig davon, welche Möglichkeiten für Übergänge zum Sozialismus man überhaupt für möglich hält: die des Degenhardtschen „Zündschnüresongs“ – Sie hatten eine Lehre, und sie hatten auch Gewehre – ist nicht nur aus der Mode gekommen, sondern wäre mit der Entwaffnung des aufständischen Volkes vermutlich bald auch nicht mehr nutzbar. Es endete der letzte Klassenkampf, bei dem beide Seiten bewaffnet sind.

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"Der letzte seiner Art", UZ vom 8. Juli 2016



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