Nachdem der brasilianische Schriftsteller Jorge Amado den berühmten politischen Gefangenen der faschistischen Salazar-Diktatur Anfang der 1950er Jahre im Gefängnis besucht hatte, notierte er:
„An diesem Nachmittag fühlte ich mich, als hätte ich Besitz ergriffen von Portugal, das beste Portugal, das ewige Portugal, als ob Álvaro Cunhal es auf seinen knochigen Händen trug, so hagere und nervöse Hände, als trüge er es – und das tat er wirklich – in seinem revolutionären und patriotischen Herzen.“
Álvaro Cunhal, der einer breiteren europäischen Öffentlichkeit erst nach der Revolution von 1974 bekannter werden sollte, gehörte zu den zahlreichen Häftlingen in den Zuchthäusern und Festungen des damaligen Lissaboner Regimes, deren Leben gefährdet war – so wie das von Militão Ribeiro, der 1950 im Gefängnis verhungerte.
Angeregt durch Berichte Amados schrieb der chilenische Dichter Pablo Neruda 1954 ein Gedicht für eine Solidaritätskampagne zur Rettung Cunhals und anderer „unbesungener, unbesiegbarer Helden“ (Amado) des portugiesischen Volkes. Darin hieß es:
„Aber / ganz unter uns / niemand hört uns zu / Portugiese der Straße / weißt Du / wo / Álvaro Cunhal ist? / Spürst Du die Abwesenheit / des tapferen Militão?“
Im März 1949 war die Hälfte der Führung der seit 1929 illegalen portugiesischen KP einer Verhaftungswelle zum Opfer gefallen, darunter Cunhal, der der meistgesuchte Diktaturgegner war. Er wurde zu elf Jahren Haft verurteilt, von denen er acht Jahre in Einzelhaft verbrachte und drei Jahre unter strengster Aufsicht.
Cunhal, geboren am 13. November 1913, war Sohn des Juristen, Schriftstellers, Malers und Zeichners Avelino Cunhal, der ebenfalls Gegner der Diktatur war. Auch der Sohn wurde Jurist und erhielt im Examen die höchste Auszeichnung. Zu seinen Prüfern hatte Marcelo Caetano gehört, 1968 Nachfolger von Salazar im Amt des Ministerpräsidenten. Im Jahr 1934 wurde er, der mit 17 in die KP eingetreten war, Generalsekretär der Kommunistischen Jugend; seit 1936 gehörte er dem ZK seiner Partei an. Schon im Jahr zuvor war er Teilnehmer des Weltkongresses der Kommunistischen Internationale in Moskau. Sein politisches Gerichtsverfahren 1950 gestaltete er zu einer Anklage des faschistischen Regimes. Seine Rede enthielt das zusammengefasste Programm der PCP, der das Regime einen „antinationalen Charakter“ unterstellte: „Wir sind hier aus Liebe zu unserem Land. Und das ist der wichtigste Grund von allen.“
1961 erschien unter Pseudonym seine zwischen 1953 und 1955 in Einzelhaft entstandene Übersetzung von William Shakespeares „König Lear“ ins Portugiesische. Seine in den 1950er Jahren ebenfalls in der Haft entstandenen Bleistiftzeichnungen zählten Kritiker später zu den bedeutendsten neorealistischen Arbeiten Portugals. Erst 1994 bekannte er sich zur Autorenschaft mehrerer unter dem Pseudonym Manuel Tiago erschienener Romane.
Nach der legendären Flucht Cunhals und anderer Kommunisten aus der Festungshaft in Peniche 1960 wurde er 1961 Generalsekretär der PCP, was er bis 1992 blieb. Zu seinen wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Analysen gehörte die Ausarbeitung „Kurs auf den Sieg“, die nicht nur eine umfassende Charakterisierung Portugals beinhaltete, sondern auch künftige Entwicklungen voraussah.
Es sei angemerkt, dass Cunhal für Portugal und seine Partei auch den bewaffneten Aufstand Anfang der 1960er Jahre für möglich hielt, als die meisten anderen kommunistischen Parteien glaubten, eher ein friedlicher Weg in Richtung Sozialismus entspreche den allgemeinen und realen Möglichkeiten. Keineswegs übertrug die PCP automatisch Schlussfolgerungen, die anderswo getroffen wurden, auf die eigenen Bedingungen.
Sein intellektueller Scharfsinn und seine Organisationsfähigkeit halfen der PCP in den 1960er Jahren, sich vorausschauend mit den entstehenden Bedingungen für den Sturz der faschistischen Diktatur zu befassen und diese aktiv mitzubestimmen.
Cunhal war ein Theoretiker und „Praktiker“ der Revolution von 1974. Sein persönlicher Anteil am Erfolg des Sturzes der Diktatur, am Ende der „salazaristischen Demütigung“ (Amado) und an den tiefgreifenden Umwälzungen, die sich insbesondere bis 1976 anschlossen, ist außerordentlich, auch wenn er selbst das Volk und das Kollektiv seiner Partei in den Mittelpunkt stellte und die Hervorhebung seiner Person nicht schätzte.
Zu den wesentlichen Zielen Cunhals und seiner Partei gehörte die rasche Anerkennung der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien; einige Führer der Befreiungsbewegungen hatten sich vor 1974 sogar der verbotenen PCP angeschlossen, weil nur sie deren Sehnsüchte teilte. Diese einflussreiche „charismatische Figur des Widerstands“ – so die „Neue Zürcher Zeitung“ – wurde im nachrevolutionären Portugal zum Minister der ersten vier provisorischen Regierungen. Der „Lenin von Lissabon“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“) verstand es während Revolution und Gegenrevolution wie kaum ein anderer, seine Partei sowohl zu großartigen Erfolgen als auch in den geordneten Rückzug zu führen, wenn dies notwendig war, um erneut in die Offensive zu kommen.
Die Vereinfacher und Demagogen mögen diese „Jahrhundertpersönlichkeit“ der kommunistischen Bewegung weiter als „Stalinisten und Dogmatiker“ titulieren. Cunhal, Deckname „Duarte“, war geprägt von den Erfolgen, Niederlagen und Widersprüchen der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Er konnte an der Spitze der PCP mit dieser Partei aber genau deswegen erfolgreich sein, weil er es verstand, mit ihr den Marxismus tatsächlich kreativ auf die portugiesischen Verhältnisse anzuwenden. Seine Tochter Ana, einst danach befragt, ob ihr Vater „hart“ gewesen sei, antwortete, dass einige Leute diese Eigenschaft verwechselten mit „kohärent, verantwortungsbewusst, aufrecht, mutig und verbindlich“.
Als Cunhal im Juni 2005 starb, folgten 250.000 Menschen seinem Sarg. Er galt in Portugal weithin und bis tief ins bürgerliche Lager als eine integre Persönlichkeit. Der portugiesische Staat ehrte ihn mit einem Staatsbegräbnis; die Post brachte zwei Briefmarken zum Gedenken heraus: Gesten einer politischen Kultur in Portugal, die sich noch immer ein klein wenig von der Kultur anderer europäischer Staaten unterscheidet – auch das eine Folge der antifaschistischen Selbstbefreiung von 1974.
Vier Jahre vor seinem Tod formulierte Álvaro Cunhal für eine Konferenz in Uruguay seine Gedanken zu den Merkmalen einer kommunistischen Partei. Sie lassen sich durchaus als eine Art politisches Vermächtnis dieses portugiesischen Revolutionärs lesen.
Faszinierend ist, wie „prophetisch“ seine Beschreibung 2001 war:
Wir können die kapitalistische Welt von heute darin erkennen. Wir können erkennen, dass der von den USA angeführte Globalismus (man wird heute neoliberaler Finanzkapitalismus dazu sagen) die Souveränität auch anderer kapitalistischer Staaten untergräbt, weil er eine umfassende Weltherrschaft anstrebt. Wir können erkennen, dass ein erfahrener Revolutionär wie Cunhal die in diesem Imperialismus lauernden Gefahren schon vor über 20 Jahren für die größte heraufziehende Bedrohung der Menschheit hielt. Ein Fingerzeig von „Duarte“ für die Gegenwart.
Weitere Infos unter: kurzlinks.de/charakterzuege