Zum 50. Todestag Pablo Nerudas

Der Kommunist mit dem großen Gesang

In seiner letzten Ansprache über den Sender der Kommunistischen Partei „Radio Magallanes“ erklärte Salvador Allende am Morgen des Putsches: „Gesellschaftliche Prozesse lassen sich weder durch Verbrechen noch durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.“ Möglicherweise inspirierte ihn dazu eine frühere Aussage seines Kampfgefährten Pablo Neruda. In einem ihm zugeschriebenen Satz hatte der Dichter – als würde er den Sturz der sozialistischen Regierung durch CIA und Faschisten vorausahnen – formuliert: „Sie können wohl alle Blumen abschneiden, aber sie können nicht verhindern, dass es Frühling wird.“ Am 23. September 1973 wurde Neruda zum Opfer derselben Mörderbande, die die Regierung der Unidad Popular gewaltsam gestürzt hatte.

Die Bombardierung des Präsidentenpalastes „La Moneda“, erinnere ihn „an den Blitzkrieg der Naziluftwaffe gegen schutzlose ausländische Städte, spanische, englische, russische. Nun geschah das gleiche Verbrechen in Chile“, schrieb der schon schwerkranke Poet „drei Tage nach den empörenden Ereignissen, die zum Tod meines großen Gefährten, des Präsidenten Allende, führten“. Ein offenbar mit Bedacht gewähltes Bild. Schließlich hatten fast alle zerstörten Ziele den Terror der sich unbesiegbar wähnenden Nazis überdauert und blühten bereits wieder auf, als deutsche Städte noch in Schutt und Asche lagen. Kurz vor seinem Tod fasste Neruda, der neben Gabriel García Márquez und Julio Cortázar zu den Giganten der Literatur Lateinamerikas zählt, Ursachen und Hintergründe des Putsches in seinem Memoirenband „Ich bekenne ich habe gelebt“ in einem einzigen Satz zusammen: „Allendes Werke und Taten von unauslöschlichem nationalen Wert erzürnten die Feinde unserer Befreiung.“

Auch Nerudas Werke erzürnten sie. Und der bestialische Mord an dem Volkssänger Victor Jara war den Feinden der Freiheit zu wenig. Der Kommunist Neruda, den Gabriel García Márquez einst als „größten Dichter des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, war es, den sie ebenfalls tot sehen wollten. Als der an Prostatakrebs erkrankte Poet in seinem Haus in Santiago ans Bett gefesselt war, plünderten Pinochets Schergen sein Landhaus in der Siedlung Isla Negra an der südlich von Valparaiso gelegenen Küste. Auf den Straßen verbrannten sie seine Bücher, die noch bis 1990 in Chile verboten waren. Nerudas Tod ist lange als Folge der Krebserkrankung dargestellt worden. Dann fanden sich Hinweise, die eine Aussage von Nerudas Sekretär Manuel Araya stützten, dass dem Dichter im Krankenhaus eine Giftspritze verabreicht worden sei. Während diese Version bestritten wird, erklärte der an Nerudas auf Antrag der Kommunistischen Partei erfolgten Exhumierung und Obduktion beteiligte baskische Gerichtsmediziner Francisco Etxeberria, dass der Dichter, egal ob er vergiftet wurde oder nicht, ein „Opfer des Militärputsches von 1973“ sei.

Bereits 2015 hat ein internationales Team, das den Tod Nerudas untersuchen sollte, festgestellt: Die offizielle Darstellung der Todesursache sei nicht haltbar, stattdessen gebe es Hinweise auf eine Vergiftung. In diesem Jahr übergab ein internationales Forensikerteam Beweise aus Untersuchungen an die zuständige Richterin in Spanien. Nerudas Neffe Rodolfo Reyes, der den Fall anwaltlich begleitet, bestätigte gegenüber der Presse, dass die Forensiker Beweise für einen Giftmord gefunden hätten, und lieferte zugleich das Mordmotiv: „Ein Pablo Neruda im Exil hätte wie kein anderer die Möglichkeit gehabt, alle Kräfte gegen die Diktatur zu vereinen.“

Endgültig Kommunist

Neruda, dessen wirklicher Name Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto lautete, wurde am 12. Juli 1904 als Sohn eines Lokomotivführers und einer Lehrerin in der rund 340 Kilometer südlich von Santiago gelegenen Kleinstadt Parral geboren. Im Alter von zwei Jahren zog sein Vater mit ihm in die vorwiegend von Angehörigen des Mapuche-Volkes und deutschsprachigen Einwanderern bewohnte Stadt Temuco. Als Jugendlicher lernte er die 1945 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Schriftstellerin Gabriela Mistral kennen, die ihm russische Literaten nahebrachte. Dadurch selbst zum Schreiben animiert, gewann er im Alter von 15 Jahren eine erste Auszeichnung für ein Gedicht. Später legte er sich das Pseudonym Pablo Neruda zu, studierte an der Universität von Santiago Pädagogik und Französisch und veröffentlichte 1923 sein erstes Buch. Dennoch bewarb er sich für den diplomatischen Dienst, verbrachte erste Stationen in Asien und Buenos Aires und wurde 1934 Konsul in Spanien, zunächst in Barcelona und später in Madrid.

Nach dem Putsch der von Francisco Franco angeführten Faschisten, die den mit ihm befreundeten Dichter Federico García Lorca erschossen, schloss Neruda sich dem Widerstand an. „Wenn ich auch mein Parteibuch erst viel später, in Chile, erhielt, als ich offiziell in die Partei eintrat, empfand ich mich doch während des Spanienkriegs schon endgültig als Kommunist“, schrieb er in seinen Memoiren. „Ich musste einen Weg wählen. Und das tat ich in jenen Tagen und habe meine Entscheidung, die ich zwischen der Finsternis und Hoffnung jener tragischen Epoche fällte, nie bereuen müssen.“ Für ihn „waren die Kommunisten die einzige organisierte Kraft, die ein Heer auf die Beine stellte gegen Italiener, Deutsche und die Falangisten. Sie waren die moralische Kraft, die den antifaschistischen Widerstand und Kampf aufrecht erhielt“.

Als die Faschisten 1936 vor den Toren Madrids standen, floh Neruda nach Paris, wo er sich einer Gruppe im Exil lebender spanischer Politiker, Journalisten und Künstler anschloss, der auch Pablo Picasso angehörte. 1938 kehrte er nach Chile zurück und fand eine Anstellung als Redakteur der Zeitschrift „Aurora de Chile“. In seinen Artikeln warnte er vor dem sich ausbreitenden Faschismus.

Erneutes Exil

Als die im Jahr seiner Rückkehr aus einem Bündnis der linksliberalen Partido Radical und der beiden Arbeiterparteien Partido Socialista und Partido Comunista gebildete Volksfront-Regierung an die Macht kam, wurde er erneut nach Paris geschickt, um vor Franco geflohenen Emigranten die Weiterreise nach Chile zu ermöglichen. Es gelang ihm, rund 2.000 Geflüchtete auf einem Schiff nach Chile zu bringen. Danach wurde er zum Generalkonsul in Mexiko ernannt, bat aber 1943 um die Entlassung aus dem diplomatischen Dienst, um sich ganz dem Schreiben und der Politik zu widmen. Im März 1945 trat Neruda als unabhängiger Kandidat auf der Liste der Kommunistischen Partei für den Senat an. Seinen offiziellen Beitritt in die Partei, der er sich schon lange zugehörig fühlte, erklärte er am 8. Juli 1945.

Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen unterstützte er zunächst den Kandidaten der Radikalen Partei, Gabriel González Videla, der am 3. November 1946 sein Amt als Chef einer Regierung antrat, der auch Vertreter der KP angehörten. Doch als Videla nach der Wahl im beginnenden Kalten Krieg seine politische Position änderte, wurde Neruda zu einem seiner schärfsten Kritiker. „Sie haben das Volk, durch dessen Stimme Sie Präsident geworden sind, belogen und betrogen. Statt die Armut zu bekämpfen, wie Sie es versprochen haben, festigen Sie nur die Macht der wenigen Reichen, die das Volk aussaugen wie Vampire“, warf er dem Präsidenten vor. Obwohl Neruda als Senator Immunität genoss, wurde daraufhin ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Wieder war der Dichter auf der Flucht. Mit Hilfe des Gewerkschaftsführers und späteren Generalsekretärs des ZK der mittlerweile verbotenen KP, Galo González, entkam er seinen Verfolgern über Argentinien nach Paris, wo er erneut mit Picasso zusammentraf.

Trotz des unsteten Lebens auf der Flucht verfolgte er seit Jahren einen ambitionierten Plan. „Die Idee eines Hauptgedichts, das die historischen Begebenheiten, die geographischen Bedingtheiten, Leben und Kämpfe unserer Völker zusammenfasste, stand mir als dringliche Aufgabe vor Augen“, schrieb er in seinen Memoiren. Stück für Stück realisierte er sein vielleicht bedeutendstes Werk, den Gedichtzyklus „Canto General“ (Der große Gesang), der in 15 Abschnitten die Erschaffung Lateinamerikas, der Flora und Fauna, die dort lebenden Menschen, die Eroberung durch die Kolonialmächte, die anschließenden Befreiungskämpfe und die ewige Hoffnung der Völker auf Unabhängigkeit beschreibt. Das Werk erschien 1950 in Mexiko, wo Neruda von 1949 bis 1952 im Exil lebte. In Lateinamerika besitzt das von den Pinochet-Faschisten gefürchtete, verbotene und verbrannte Werk heute Kultstatus.

„Wenn die Zeit den Menschen ihren endgültigen Triumph beschert hat, wird dieses Buch von Neruda als das umfangreichste symphonische Gedicht in Amerika hervorgehen. Es ist Poesie, die einen Meilenstein und vielleicht einen Gipfel zeigt“, schrieb Che Guevara in sein Tagebuch. Neruda wusste von Ches Verehrung für ihn. „Von Régis Debray erfuhr ich, dass er in den Bergen Boliviens bis zum letzten Moment nur zwei Bücher in seinem Rucksack hatte: einen Rechentext und meinen Canto General“, schrieb er in seinen Memoiren. Der Dichter und der Revolutionär waren sich Mitte November 1960 in Havanna auch persönlich begegnet. „Er war ein Mann, mit dem man reden konnte, in der Pampa, von Kumpel zu Kumpel. Seine Sätze waren kurz und endeten mit einem Lächeln, als würde er den Kommentar in der Luft hinterlassen. Ich fühlte mich geschmeichelt von dem, was er mir über mein Buch Canto General erzählte. Er las es nachts seinen Guerillas in der Sierra Maestra vor. Jetzt, da die Jahre vergangen sind, schaudert es mich bei dem Gedanken, dass meine Verse ihn auch bei seinem Tod begleitet haben.“

In Anerkennung seines Wirkens erhielt Neruda im November 1950 zusammen mit Pablo Picasso und anderen Künstlern den Friedenspreis des Weltfriedenskongresses. Für „die Konsolidierung des Friedens unter den Völkern“ wurde er außerdem 1953 – ein Jahr vor Bertolt Brecht – mit dem sowjetischen Stalinpreis ausgezeichnet.

Zurück in Chile

Im August 1952 – drei Monate vor Antritt des neuen Präsidenten Carlos Ibáñez – konnte Neruda nach Chile zurückkehren. 1953 erschien der „Canto General“ auch in seinem Heimatland. Der Dichter konzentrierte sich zunächst auf seine literarische Arbeit. Nachdem die progressiven Kräfte bei den Präsidentschaftswahlen der Jahre 1958 und 1964 unterlegen waren, wollten sie 1970 einen neuen Anlauf wagen. Mit der am 17. Dezember 1969 als Bündnis mehrerer linker Parteien gegründeten „Unidad Popular“ standen die Erfolgschancen gut. Doch da man sich zunächst nicht auf einen Kandidaten einigen konnte, setzte die Kommunistische Partei ein Ultimatum. „Wenn bis zum 22. Januar 1970 keine Entscheidung gefallen ist, wird Pablo Neruda der Präsidentschaftskandidat“, hieß es. Allerdings erklärte die KP ihre Bereitschaft, auf den eigenen Bewerber zugunsten eines für alle akzeptablen Kandidaten zu verzichten. Am 22. Januar 1970 beschloss das Führungskomitee der Unidad Popular dann einstimmig, Allende für die Wahl als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Am Abend desselben Tages teilte Luis Corvalán auf einer großen Kundgebung in Santiago mit: „Die Entscheidung ist gefallen. Wir haben einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Präsidenten: Salvador Allende.“ – „Vor einer riesigen und ausgelassenen Menschenmenge gab ich meine Rücknahme der Kandidatur bekannt“, erinnerte sich Neruda später. Gemeinsam mit der jubelnden Volksmenge stimmten er und Corvalán den neuen Schlachtruf der Bewegung an. „Allende, amigo, el pueblo está contigo“, das Volk ist an deiner Seite.

Trotz subversiver Kampagnen der CIA und der chilenischen Rechten erzielte Allende bei der Präsidentschaftswahl am 4. September 1970 mit 36,4 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis. Nachdem der Kongress ihn mit 153 zu 35 Stimmen als Präsident bestätigt hatte, trat er das Amt am 3. November an. Er überredete Neruda, das neue Chile als Botschafter in Paris zu repräsentieren. Während seines dortigen Aufenthalts wurde dem Dichter am 21. Oktober 1971 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Das Komitee hob in seiner Begründung besonders den „Canto General“ hervor. „Für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht.“ Allende würdigte Neruda als außergewöhnlichen Humanisten, „der vortrefflich und wunderschön die menschlichen Existenzängste beschreibt. In den Erzählungen Nerudas lebt Chile, mit seinen Flüssen, seinen Bergen, seinem ewigen Schnee und den tropischen Wüstenzonen, doch vor allem ist da der Mann und die Frau, und deshalb sind die Liebe und der soziale Kampf anwesend.“

Wenige Tage nach Verleihung des Preises kehrte Neruda wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit nach Chile zurück. Doch sein Land hatte sich erneut verändert. „Eine andere Vegetation färbte die Mauern der Stadt. Die Flechten des Hasses überzogen sie. Antikommunistische Plakate verspritzen Unverschämtheiten und Lügen; Plakate gegen Kuba: antisowjetische Plakate, Plakate gegen Frieden und Menschlichkeit; blutrünstige Plakate, die Gemetzel und Jakartas voraussagten“, beschrieb er seine Eindrücke. „Ich kannte Tonfall und Sinn dieser Propaganda aus Erfahrung. Ich hatte das Europa vor Hitler gekannt. Genau das war der Geist der Hitlerpropaganda gewesen; eine Lügenkampagne mit vollen Segeln, ein Kreuzzug der Drohungen und Einschüchterungen, die Entfaltung aller Waffen des Hasses gegen die Zukunft. Ich fühlte, dass diese Leute die Essenz unseres Lebens ändern wollten“, beschlich ihn eine Ahnung der bevorstehenden Untaten. Er fügte hinzu: „Als der Terrorismus sich für die herrschende Klasse als notwendig erwies, setzte diese ihn bedenkenlos ein.“

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"Der Kommunist mit dem großen Gesang", UZ vom 22. September 2023



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