Dietrich Kittners „Wie ein Gesetz entsteht“ – Aktuell wie am Tag des Erscheinens

Der Keksfabrikant und die Rechtsbeugung

Frank Kowalewsky

Vor über vierzig Jahren erschien von Dietrich Kittner ein Politklassiker allerfeinster Güte, der uns auch heute noch viel mitzuteilen hat: „Wie ein Gesetz entsteht. Fiktives Rondo für verteilte Medien mit 33 Zeichnungen von Guido Zingerl.“ In kurzer und prononcierter Form wurden die Grenzen der bürgerlichen Justiz und die große Gefahr des Abbaus demokratischer Grundrechte aufgezeigt.

Dietrich Kittner, der deutsche Satiriker, Kabarettist und Liedermacher, der Rechte studiert hatte und ein Linker wurde, legte 1979 sein allgemeinverständliches Lehrwerk über die Entstehung eines Gesetzes in der alten Bundesrepublik Deutschland vor, und zwar am Beispiel eines Gesetzes zur Wiedereinführung der Folter. Er hatte sich längere Zeit den Kopf darüber zerbrochen, wie seinem Kabarettpublikum die Entstehung eines sogenannten Antiterror-Gesetzes exemplarisch zu schildern wäre, bis seine Freunde Werner Holtfreter und Eckart Spoo einmal meinten: „Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Wiedereinführung der Folter per Gesetz, Man müsste das mal durchspielen …“
Dietrich Kittner spielte es durch, als Mahnung und zur „Abwehr willkürlicher Verdächtigungen und staatlichen Terrors, wie er in unserer Vergangenheit wirksam war, von dem wir heute jedoch meilenweit entfernt sind. (1 Meile = circa 1,7 km)“.

Ausgangspunkt für das fiktive Rondo ist ein Zitat von Dr. Ernst Albrecht aus seinem Werk „Der Staat – Idee und Wirklichkeit. Grundzüge einer Staatsphilosophie“, das im Seewald-Verlag in Stuttgart 1976 in der ersten Auflage erschienen war. Darin schreibt der damalige CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, der von 1971 bis 1976 auch Geschäftsführer des Gebäckherstellers Bahlsen war: „Wenn es z. B. etabliert wäre, dass ein bestimmter Kreis von Personen über moderne Massenvernichtungsmittel verfügt und entschlossen ist, diese Mittel innerhalb kürzester Frist zu verbrecherischen Zwecken einzusetzen, und angenommen, dieses Vorhaben könnte nur vereitelt werden, wenn es gelingt, rechtzeitig den Aufenthaltsort dieser Personen zu erfahren, so kann es sittlich geboten sein, diese Information von einem Mitglied des betreffenden Personenkreises auch durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein namenloses Verbrechen zu verhindern. Nach dem, was gerade unsere Zeit wieder an Unmenschlichkeiten erlebt hat, fällt es schwer, auch nur diese kleine Tür für Eingriffe in das zur Erörterung stehende Grundrecht zu öffnen. Eine theoretische Analyse kann jedoch zu keinem anderen Ergebnis gelangen.“

Kittner entwickelt ein fiktives Szenario, wie diese „kleine Tür“ in der Bundesrepublik geöffnet werden könnte. Es sei eben notwendig (die weiteren Zitate von Kittner), der terroristischen Herausforderung mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates „bis an seinen Rand – und notfalls darüber hinaus – zu begegnen. Darum werde die Bundesregierung unverzüglich ein ‚Gesetz zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit‘ einbringen. Dieses Gesetz werde Erkenntniserzwingung durch Beifügung von körperlichen Unlustgefühlen nur in streng begrenzten Ausnahmefällen zulassen.“ Und das, obwohl der Bundesverband der Krankenkassen schon erklärt hatte, die ihm angeschlossenen Versicherungen würden sich gegebenenfalls aus grundsätzlichen Erwägungen weigern, die Folgekosten aus Erkenntniserzwingungshandlungen zu übernehmen.

Siemens, Bosch und AEG haben bei Kittner einen Forschungsauftrag über 200 Millionen D-Mark zur Entwicklung, Herstellung und Erprobung von 4.000 Erkenntniserzwingungsgeräten. Und diese Mittel, so ein Sprecher des Bundesforschungsministeriums, „könne man doch nicht einfach in den Wind schreiben“. Um den Konflikt mit den Krankenkassen auszuräumen, schlägt die Bundesregierung vor, den Krankenkassen 80 Prozent der medizinischen Folgekosten aus Erkenntniserzwingungsfällen über den Sozialhaushalt zu erstatten. Die restlichen 20 Prozent solle der Delinquent als „Selbstbeteiligung“ tragen.

Nun schaltete sich sogar die Ful­daer Bischofskonferenz ein, die darauf besteht, dass beim Erkenntniserzwingungsakt eine strikte Geschlechtertrennung gewährleistet bleibe, und die F. D. P., die über ihren Ministerflügel durchsetzt, dass bestimmte Personengruppen von der Erkenntniserzwingung grundsätzlich ausgenommen werden, vor allen Dingen leitende Angestellte. Daraufhin protestiert der Bundesverband der Tierschutzvereine aufs Schärfste, dass die Erkenntniserzwingungsgeräte an Tieren erprobt würden. Und so weiter.

Das „Gesetz zum Schutz körperlicher Unversehrtheit“ wird im Deutschen Bundestag schließlich bei vier Gegenstimmen angenommen. Das fiktive Foltergesetz regelt ganz demokratisch jede Menge Ausnahmefälle, wann ein Erkenntniserzwingungsverfahren geboten erscheint. „Sogenannte Wirtschaftsvergehen sind keine Ausnahmefälle“, heißt es in Paragraph 3, um die Wirtschaftsbosse zu schonen.

Dietrich Kittner betont aus juristischen Gründen in seinem Nachwort, das hier „üble Nachrede“ heißt, dass es sich um eine Satire handelt. Aber es sei schon die Absicht jeder Satire, beim Leser Erkenntnisse zu erzwingen!

Völlig authentisch ist allein das einleitende Zitat von Ernst Albrecht. Der Rest ist ausgedacht, fiktiv, frei erfunden. „Wir alle wissen spätestens seit der Verabschiedung der allerletzten Anti-Terror-Gesetze, dass bundesdeutsche Politiker, Beamte und Meinungsmacher keinesfalls zu den vorstehend geschilderten Äußerungen und Handlungen fähig wären; so etwas anzunehmen, wäre absurd, völlig aus der Luft gegriffen und haltlos.“ Wirklich?

Dietrich Kittner
Wie ein Gesetz entsteht
Fiktives Rondo mit 31 Zeichnungen von Guido Zingerl

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"Der Keksfabrikant und die Rechtsbeugung", UZ vom 14. April 2023



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