Wechselnde Perspektiven in Christoph Peters „Dorfroman“

Der Kampf um Kalkar

Jürgen Meier

Das Leben des Dorfes „Hülkendonck“ ist in jeder Zeile des Buches deutlich zu spüren. „In den Rheinwiesen steht noch ein Rest vom letzten Hochwasser und spiegelt den weißen Himmel als weiße Fläche, darin die Kopfweiden, die wir oft als Baumhäuser nutzen. Die Wiesen des Dorfes enden am Hof von Bauer Seesing, der Bau war früher die Burg des Raubritters Hilbert. Daneben steht unsere Kirche.“

Der Autor weiß, worüber er schreibt. Er ist 1966 in diesem Dorf geboren, dessen Natur und Menschen er miteinander in eine Beziehung setzt. Es wird deutlich, wie Menschen in ihrem Bewusstsein unterschiedlich auf die ihnen äußere Wirklichkeit reagieren, die sich in der wachsenden Gestalt des „Schnellen Brüters“ vor ihnen auftürmt. Das Dorf ist Teil des Gebietes in Kalkar, in dem die Wiederaufbereitungsanlage der Atomindustrie entstehen soll.

Zur Erinnerung: Der „Schnelle Brüter“ sollte das modernste Atomkraftwerk der Welt werden. Ein „Perpetuum mobile des Industriezeitalters“, hieß es, indem es mehr Plutonium-Brennstoff herstellt, als es gleichzeitig verbraucht. Strategisches Ziel war die mittelfristige Unabhängigkeit Deutschlands von Energieimporten. Dies war aber nur die halbe Wahrheit. Bereits 1943 hatte Robert Oppenheimer den „Schnellen Brüter“ einen großtechnisch organisierten Weg zur Atombombe genannt. Das Bundesministerium für Forschung und Technologie garantierte dem Elektrokonzern Siemens und seiner Tochter Interatom die Finanzierung des Baus, der dann im Auftrag des Strommonopolisten RWE für 6,4 Milliarden Euro realisiert, aber nie in Betrieb genommen wurde. Der Druck des großen Widerstands der niederländischen, belgischen und westdeutschen Bevölkerung zwang die Landesregierung in Düsseldorf, ihre Zustimmung zur Betriebsaufnahme zu verweigern. Am 24. September 1977 gab es in Kalkar eine Großdemonstration, bei der 40.000 Menschen gegen die Fertigstellung des Werks protestierten. Das Polizeiaufgebot war damals das größte in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen. Der Autor beschreibt einprägsam und ausführlich die Brutalität, mit der die Polizeikräfte den geplanten Weg des Monopolkapitals zum Bau der Atombombe gegen die Demon­stranten verteidigten.

„Plötzlich tauchten Männer in schwarzer Kampfmontur unter Helmen mit heruntergeklapptem Visier im Rücken der Demonstranten auf. Sie prügelten wie losgelassen auf alles ein, was sich bewegte, trafen ungeschützte Köpfe, Arme, die versuchten, irgendwie die Wucht des Aufpralls abzufangen, Körper, die sich unter Schlägen krümmten. Einer, der sich umdrehte, um zu entkommen, wurde mitten ins Gesicht getroffen.“

Die Demonstranten riefen: „Schneller Brüter – schneller Töter“. „,Sind verdammt viele Holländer dabei‘, sagt mein Vater … Das kann mir auch niemand erklären, was die hier zu suchen haben“, sagt meine Mutter. Viele Transparente waren „auf Holländisch: ‚Calcar – het Einde!‘, ‚Laat u niet vor de Calcar spannen‘“. Als der Vater des Erzählers die Demonstranten sieht, kommentiert er deren Erscheinung mit den Worten, „Normalerweise würde man die nicht mal mit der Zange anfassen“. Der Vater ist Mitglied im katholischen Kirchenvorstand und im Berufsleben verantwortlicher Techniker eines Betriebes, der Traktoren verkauft und repariert. Er ist hartnäckiger Befürworter des Schnellen Brüters. Sein Einsatz, gestützt von den Kirchenfürsten, treibt das Dorf in eine Spaltung, die auch vor Freunden keinen Halt macht. „Mit Frau Seesing, Frau Praats und Frau van Elst“ fuhr die Mutter „einmal im Monat zum Kaffeeklatsch nach Schloich.“ Frau Praat, deren Mann die Speerspitze des Widerstandes ist, nimmt plötzlich an diesem Kaffeeklatsch nicht mehr teil, obwohl, wie die Mutter dem Erzähler-Kind erklärt, sie so gern Kuchen isst. Bauer Praat, bis zum Widerstand auch Mitglied des katholischen Kirchenvorstands, weigert sich, sein Grundstück an RWE zu verkaufen. Er unterstützt den Aufbau eines Camps von Aktivisten, denen er eine große Fläche seines Landes zur Verfügung stellt. Im echten Leben war Bauer Praat „Bauer Maas“ (1931– 2008) oder auch der „Held von Kalkar“. Eine Symbolfigur des Widerstands.

Das Besondere dieses einfühlsamen Romans ist die Perspektive, mit der Christoph Peters auf diese Ereignisse nach dreißig Jahren blickt. Er beschreibt, im Ton immer unaufgeregt, wie er die Kontroversen als Kind, als Jugendlicher und schließlich als erwachsener Besucher erlebt. Die Perspektive des Kindes ist zunächst identisch mit der seiner Eltern. Man spürt die Liebe zum Vater, der ihm das Dorfleben und dessen Entwicklung erklärt. Von der Mutter, einer Lehrerin, wird ihm ein Blick auf die Welt vermittelt, den das Kind mehr und mehr kritisch beäugt. „Es gab zwei Paare, die in Mischehe lebten“ und die aus der Sicht der Mutter zum Scheitern verurteilt waren. „Das konnte nichts werden.“

Das Kind, leidenschaftlicher Schmetterlingsfänger, beginnt sich heimlich auf eigene Faust zu informieren. Zweifel am elterlichen Blick auf die Wirklichkeit entsteht: „Die einen finden, dass die Kirche und damit auch der Pastor in Sachen der Wirtschaft die Entscheidungen der Politik unterstützen sollten, denn schon Jesus hat sich in die Angelegenheiten des Staats nicht eingemischt … die anderen sind der Meinung, dass die Bischöfe und Priester wegen ihrer christlichen Verantwortung für das Leben gegen Atomkraftwerke entschlossen kämpfen müssen, weil Gott den Menschen zwar erlaubt hat, seine Schöpfung zu nutzen, aber gleichzeitig verlangt, dass wir sie schützen und bewahren … Was ich nicht verstehe, ist, wie es sein kann, dass Wissenschaftler, die sich mit all diesen Sachen genau auskennen, in derart wichtigen Fragen ganz gegensätzliche Ansichten haben können.“
Es ist die Liebe zu Juliane, die den jugendlichen Erzähler schließlich in einen offenen Konflikt mit den Eltern treibt. Juliane lebt im Widerstandscamp. Sie ist fünf Jahre älter als er und erwidert seine Zuneigung. Im Camp werden demokratische Regeln strikt verfolgt, an denen er als Zuhörer interessiert teilnimmt. Die Gruppe der Widerständler ist in der Taktik des Kampfes unterschiedlicher Meinung. Die Mehrheit will Widerstand ohne Gewalt, was die Minderheit der Gruppe als Naivität beschimpft. Die liebe Anette, eine von der Mehrheitsfraktion, „die die Pöbeleien eines Mannes mit der Schenkung eines Gänseblümchens quittiert und ihm sagt, Schwerter zu Pflugscharen, Knüppel zu Blumen“, wird von einem Aktivisten heftig beschimpft. Sie würde „die totalitären Strukturen, die den imperialistischen Kapitalismus an der Macht halten, einfach ausblenden … Diese scheiß Friede-Freude-Eierkuchen-Strategie bewirkt nur, dass sie uns nicht ernst nehmen. Gerade die Atomlobby ist super eng mit dem militärisch-industriellen Komplex verbunden.“

Juliane wird auf der Demonstration, an der der Erzähler nur aus der Ferne teilnimmt, von Polizisten verletzt. Sie „lag da mit geschlossenen Augen, atmete schwer, murmelte, ‚diese Wichser‘, verdammte Arschlöcher‘ und ‚Es tut weh‘.“ Von ihrem jugendlichen Freund will sie nichts mehr wissen.

Der besucht, dreißig Jahre später, seine alten Eltern und fragt sich, wie kann nun er, der Sohn, das tun, was einst die Eltern getan haben, nämlich ermahnen und sorgen. Der Vater kann nicht mehr gut sehen, ist vergesslich, aber findet es gut, dass der Schnelle Brüter nicht in Betrieb ging. Ihr Blick auf die Wirklichkeit ist wieder eins. Aber soll er eine osteuropäische Pflegekraft engagieren oder das Haus umbauen oder doch ins Heim?

Christoph Peters
Dorfroman
Luchterhand Verlag 2020
geb., 416 Seiten, 22,- Euro

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"Der Kampf um Kalkar", UZ vom 11. Dezember 2020



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