In „Wilde grüne Stadt“ zeigt Marius Hulpe Mut zur Lücke

Der Iran-Komplex

Von Ken Merten

Marius Hulpe

Wilde grüne Stadt

DuMont-Verlag

Köln 2019, 400 Seiten

24 Euro (eBook: 18,99 Euro)

Nomadisch ist das Leben in „Wilde grüne Stadt“, dem Debütroman von Marius Hulpe, 1982 in Soest geboren. Er ist bisher hauptsächlich als Lyriker (unter anderem mit „Wiederbelebung der Lämmer“, Ammann-Verlag 2008) bekannt und hat zuletzt einen Essay über den Einklang von neoliberaler Prosperität mit reaktionärem Geistestrend in Polen („Der Polen-Komplex“, Hanser-Verlag 2016) veröffentlicht.

Reza, der kluge, impulsive, oft jähzornige Sohn reicher Eltern in Persien, wird in diesem Roman zu Beginn der 1960er Jahre von der Schah-Despotie als Wirtschaftsspion in die Bundesrepublik geschickt. Dem vorangegangen waren Befehlsverweigerung und die Hand des Soldaten Reza, die ins Gesicht seines Offiziers ausrutschte. Dass er dafür nicht bestraft, sondern vielmehr in den Auslandsdienst in Zivilkleidung versetzt und befördert wird, hat er seinem Status zu verdanken:

„Dass sie dich nicht umgelegt haben, wirklich, das ist eine gute Rückversicherung dafür, wie groß unser Einfluss noch immer ist. Immer weiter wächst er, ohne dass sie es mitbekommen! Und was passiert stattdessen? Sie nehmen dich bei ihnen auf und zahlen dir ein Stipendium, damit du in schöne Länder reisen kannst. Ist das nicht ungeheuerlich?“, versichert ihm einer seiner Onkel.

Reza selbst ist vorerst Profiteur dieses unfreiwilligen Arbeitsauftrags. Er soll in Westdeutschland studieren, Einfluss und Expertise gewinnen und sein Wissen an die Herrschenden in seiner Heimat weiterleiten, damit auch Persien ein Wirtschaftswunder erlebt.

In der BRD angekommen, steht Reza das Gros seiner Lebensstationen noch bevor: Abitur in einem Internat an der französischen Grenze, ein Studium der Landwirtschaftstechnik in Westfalen, Arbeit auf einem Bauernhof, Post-68er-Polit-Bohème-Leben und Gammelstudium in Berlin sind nur einige. Dazwischen zeugt er acht Kinder, die von ihren Brüdern und Schwestern nur teilweise wissen, konsumiert Rauschmittel verschiedenster Heftigkeit, erlebt die Islamische Revolution aus der Ferne, fällt vom Günstling ab zum unzüchtigen Staatsfeind Irans, leidet an dem daraus entspringenden Geldmangel und dem Exilantendasein, verfolgt die iranischen Wahlen 2009 via Livestream, wird langsam völlig meschugge.

Es sind viele und alle kämpfen um Anerkennung, die Figuren in diesem ersten Roman von Hulpe. Clara ist die zweite Kernfigur dieses Kampfes: Nicht nur übernimmt sie als Frau die Kürschnerei ihres Vaters, den kleinunternehmerische Selbstknechtung, Alkohol und mehrere Schlaganfälle in den Rollstuhl verbannen. Trotz Firmenbesitzes erlaubt das Wirtschaften in direkter Konkurrenz zu anderen Mantelherstellern kein Leben in Luxus.

Als alleinerziehende, unverheiratete Mutter zweier Kinder, von denen mindestens eines (Niklas) einen iranischen, mit Sicherheit aber beide nichtdeutsche Väter haben. Die Behördengänge, bei der ihr vom Beamten „privat“ Hilfe angeboten wird, sind zusätzlich geprägt von Rassismus. Warum denn die Kleine, die Sheva heißen soll, einen so seltsam „jüdischen“ Namen kriegen soll, wenn sie doch schon nur halbe Deutsche, vielleicht noch halbe Rumänin oder Iranerin ist? Nicht überraschend, wird in Claras Heimatstadt doch manch ein sich besonders verdient gemachthabender Verstorbener zur Beisetzung bis in die 80er mit Hitlergruß verabschiedet, Shevas Protest dagegen als unschicklich abgewürgt.

Durch diese Auseinandersetzungen härtet Clara ab, aber auch gegenüber ihren Kindern wird sie kalt und chronisch schuldsuchend. Sie wird zu Rezas Gegenstück: Immer da, aber völlig unberührt von anderen. Was sie als Einzelkämpferin mit dem verträumten Fortschrittsgläubigen eint, ist der enge Rahmen an Entscheidungsmöglichkeiten, der ihnen gesteckt wird, die Haut, aus der sie nicht herauskommen und auf die sie stets hingewiesen werden: „Sieh, wo du herkommst! Und schon sieht man gar nichts mehr“, so formuliert es der junge Erwachsene Niklas, der seines Äußeren wegen eine Entwurzelung erfährt, die nicht etwa Freiheit mit sich bringt, sondern Stigmata.

Rätselhaft soll „Wilde grüne Stadt“ sein. Das sagt schon der Roman-Untertitel. „Im Labyrinth des entwurzelten Lebens“ ist die Prosa trefflich an Ralf Rothmanns mystifiziellen Duktus (zuletzt: „Der Gott jenes Sommers“, Suhrkamp-Verlag 2018) angelehnt. Eine stark literarisierte, detaillierte, mit Dialekt, manchmal Vulgarismen gespickte Sprache, die eine Kitschgefahr mit sich trägt, die Hulpe nicht immer verscheuchen kann, vor allem wenn er zusätzlich ins Abstrakte abdriftet: „Seine Gesten kommen ihm ein wenig gespielt vor, doch mit ihrer Natürlichkeit hebt sie alles Künstliche an ihm wieder auf.“

Dass Marius Hulpe in Vor- und Rücksprüngen gut sechzig Jahre erzählte Zeit in Präsens anbietet, die selten titulierten Orte scheinen ineinander zu schmelzen und die Erzählperspektiven geschmeidig von einer auf die andere Figur überzugehen, die Charaktere sind auf sich selbst zurückgeworfen. Sie sind sich oft sogar selbst fremd in ihren Ambivalenzen. Ihr Verhalten irritiert sie selbst, etwa wenn Clara mit Vorwürfen statt mit Besonnenheit auf ihren verschlafenen Sohn Niklas reagiert, der sich selbst wiederum mit Vandalismus in und durch die Pubertät schleppt.

Auf viel von dem, was Verbindung schaffen könnte, verzichtet Hulpe bewusst, lässt es ungesagt. Eine große Unzugehörigkeit aller entsteht dadurch, bis in den intimsten Akt hinein: „Als sie beide gekommen sind und in einem angenehmen Sinne entleert nebeneinander liegen, die Blicke starr in die sich aufhellende Trübnis da draußen gerichtet, scheint es Reza, als sei er gerade an einem Ort angelangt, dessen Existenz er bislang nur entfernt geahnt hat.“

Verbindung schafft, dass man sich durch den Roman von Marius Hulpe gemeinsam mit den Figuren finden muss. Die „Wilde grüne Stadt“ ist mit Recht als Labyrinth unterschrieben. So wenige Wegweiser Clara, Niklas, Reza und Co. haben, so oft stehen sie vor einer Sackgasse.

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"Der Iran-Komplex", UZ vom 16. August 2019



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