Nirgendwo ist die Landschaft königlicher, sind die Berge und Schlösser majestätischer und die Geschichten mystischer“, verheißt der Reiseführer. Gemeint ist der kleine Landstrich zwischen Füssen und der Grenze zu Österreich, gespickt mit den pittoresken Märchenschlössern des todessehnsüchtigen Bayernkönigs Ludwig II. Die Ausläufer der Berliner „Zeitenwende“ haben Ende Juli auch das Postkartenidyll des Ostallgäu erreicht. „Wie aus dem Nichts kreist plötzlich ein olivgrüner Hubschrauber im Tiefflug über der Rohrkopfhütte, Männer in graugrünen Uniformen stürmen die Anhöhe herauf, Schüsse aus automatischen Gewehren rattern, Blendgranaten detonieren mit ohrenbetäubendem Schlag“, schrieb die Lokalpresse.
Zwei Tage lang übten 200 Einsatzkräfte der Polizei Schwaben Süd/West, des Sondereinsatzkommandos der bayerischen Polizei (SEK) und Soldaten des Gebirgsaufklärungsbataillons 230 den Anti-Terror-Notfall. Gemeinsame Manöver von Polizei und Militär haben in Bayern seit 2020 Tradition. Bisher versteckte das Innenministerium die Kriegsspiele stets hinter Kasernenmauern. Mit „AlpenTEX 2023“ änderte sich das. Laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) soll die Zahl gemeinsamer Einsätze erhöht werden.
Die zunehmende Militarisierung des zivilgesellschaftlichen Alltags verkauft sich am besten durch das Befeuern von Ängsten: „Es geht darum, ein Bewusstsein für ein Szenario zwischen nicht mehr ganz Frieden, aber auch nicht richtig Krieg zu schaffen und die Schnittstellen zu erproben“, beschreibt der Vize-Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr (TerrFük), Generalmajor Andreas Henne, die künftige Strategie. Das TerrFük wurde zum 1. Oktober 2022 zu dem Zweck ins Leben gerufen, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu koordinieren: Zusammenarbeit mit der Polizei, strategische Führung der neuen Heimatschutzregimenter und Effektivierung der Ein-, Aus- und Durchfuhr von Militärmaterial und NATO-Soldaten („Logistik-Drehscheibe“).
Als Ermächtigung für Einsätze der Armee im Inneren greifen Polizei und Bundeswehrführung auf Artikel 35, Absatz 2 Grundgesetz (GG) zurück. Demzufolge kann bei „Naturkatastrophen“ oder „besonders schweren Unglücksfällen“ Militär im Wege der Amtshilfe angefordert werden. Früher ging es dabei um unbewaffnete Hilfe bei Erdbeben, Hochwasser, Unwetter und „Massenerkrankungen“, nach den Tornado-Aufklärungsflügen anlässlich des G8-Gipfels von Heiligendamm (2007) wurden Einsätze unter Bewaffnung immer häufiger. Seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 zum Luftsicherheitsgesetz darf die Bundeswehr Waffengewalt einsetzen, sofern ein „Ereignis von katastrophischer Dimension“ anzunehmen ist. Lediglich der Einsatz bei Demonstrationen ist (noch) untersagt. „AlpenTEX“ drehte das Rad nun wiederum weiter: In diesem Szenario forderte die Polizei das Militär wegen eines „Terroranschlags“ in einer Kleinstadt an („Besonders schwerer Unglücksfall“), bei dem die Polizei „überfordert“ gewesen sei.
Es zeichnet sich beim Einsatz der Bundeswehr im Innern genau das gleiche ab, was über die letzten 30 Jahre bei den Auslandseinsätzen zu beobachten war. Am Anfang durch das Grundgesetz nicht erlaubt, bei Bedarf wird das Grundgesetz geändert, den Rest erledigt die Praxis mit Schützenhilfe des Bundesverfassungsgerichts, bis letztlich die Ausnahme zur Regel wird. Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, kannte es aus guten Gründen weder Militär noch Wiederbewaffnung. Die Pläne für beides lagen aber bereits in der Regierungsschublade. So berichtete der „Bonner Generalanzeiger“ vom 26. Januar 1952: „Leise über Teetassen und Sandwiches hinwegsprechend, erschütterte Bundeskanzler Dr. Adenauer auf einem Empfang der Auslandspresse gestern die Alliierten mit der Mitteilung, dass er bereits als Privatmann 1948 die heutige weltpolitische Lage vorausgesehen und den Aufbau einer westdeutschen Wehrmacht vorbereitet habe“. Kein revanchistischer Großsprech von Adenauer, wie die regierungsinterne „Himmeroder Denkschrift“ vom Oktober 1950 („Geheime Bundessache“) beweist, sondern vorweggenommene Verfassungsänderung. Der Plan ging auf und erhielt seine Weihe sechs Jahre später durch das Grundgesetz.
Warum Adenauer gezwungen war, abzuwarten? Auch das steht in der „Denkschrift“: „Es fehlt der entschlossene Wehrwille in der deutschen Bevölkerung.“ Da geben Meldungen wie jene in der Zeitung „Die Zeit“ vom 26. Mai 2023 auch für heute Zuversicht: „Panzer ohne Fahrer, Schnellboote ohne Matrosen. Die Personalprobleme der Bundeswehr werden größer. Das liegt an der Demografie und fehlendem Interesse in der Bevölkerung“.