Prozess gegen Lübcke-Mörder geht zu Ende

Der individuelle Nazi

Zum 24. Mal eröffnete der Vorsitzende des 5. Senats des Oberlandesgerichts Frankfurt (OLG), Thomas Sagebiel, am 27. Oktober die Sitzung in der Strafsache gegen Stephan Ernst und Markus H. Regierungspräsident Walter Lübcke war am 2. Juni 2019 um 0.30 Uhr auf seiner Terrasse erschossen aufgefunden worden. Die Anklage gegen Ernst lautet auf Mord, versuchten Mord und zahlreiche Verstöße gegen das Waffengesetz. Ernst wird zusätzlich zur Tat an Lübcke der versuchte Mord an einem irakischen Flüchtling im Januar 2016 vorgeworfen. Der Mitangeklagte H. betritt inzwischen als freier Mann den Verhandlungssaal. Das OLG hatte den dringenden Tatverdacht der Beteiligung am Tötungsdelikt des Stephan Ernst am 1. Oktober nach 15 Monaten Untersuchungshaft verneint und ihn freigelassen. Für ihn stehen bis zum nahen Ende des Verfahrens lediglich noch Waffendelikte zur Debatte. Stephan Ernst drohen hingegen lebenslange Haft und möglicherweise Sicherungsverwahrung.

Früher waren Ernst und der Mitangeklagte H. gute Freunde. Sie verband die gemeinsame „völkisch-nationalistische“ Gesinnung, wie es die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift umschreibt. Ein faschistisches Weltbild, das auch viele der aus dem Umkreis der beiden vernommenen Zeugen teilen. Wie der Zeuge Alexander J., früheres Mitglied der faschistischen Kameradschaft „Freie Kräfte Schwalm-Eder“. Eine Gruppe, gegen die vor zehn Jahren wegen etwa 60 rechtsextrem motivierten Straftaten ermittelt wurde, wie den Überfall auf ein Zeltlager von linken Jugendlichen. Die Angeklagten kennen sich aus gemeinsamen Veranstaltungen der AfD, übten im Schützenverein das Schießen mit scharfen Waffen und hatten bis zum Tattag unmittelbaren „WhatsApp“- und Telefonkontakt.

Durch sein wechselndes Aussageverhalten hat Ernst nun selbst dafür gesorgt, dass Markus H. am Ende mit einem „blauen Auge“ davonkommen wird. In seinem ersten Geständnis unmittelbar nach seiner Festnahme im Juni 2019 nahm Ernst alles auf sich, erwähnte H. nur am Rande. Alsbald und infolge einer neuen Verteidigungsstrategie widerrief Ernst und gab an, nicht er, sondern H. habe den tödlichen Schuss abgegeben. In der Hauptverhandlung dann modifizierte Ernst seine Aussage, H. sei zwar in der fraglichen Nacht dabei gewesen, aber er selbst habe geschossen. Das OLG glaubt Ernst schlichtweg nicht mehr und ließ H. wegen des Mangels an weiteren Beweisen der Beteiligung an der Ermordung Lübckes frei.

Obschon vor dem Staatsschutzsenat verhandelt wird, drängt sich im Laufe der Verhandlung der Eindruck auf, dass all jene Spuren, die als Beleg einer tiefgehenden Verwurzelung der Angeklagten in der rechtsextremen Szene dienen könnten, nur individuell auf die Angeklagten angewendet werden. Ernst war bereits 2005 durch 37 Fälle bei der Polizei aktenkundig geworden, 1992 stach er in Wiesbaden einen Ausländer nieder, 1995 wurde er zu sechs Jahren wegen eines Angriffs mit einer Rohrbombe auf ein Flüchtlingsheim verurteilt, 2009 folgte eine weitere Strafe wegen eines Angriffs einer rechtsextremen Gruppe auf eine 1.-Mai-Kundgebung des DGB. H. und Ernst wurden späterhin auch bei Neonazi-Aufmärschen in Dortmund und Dresden auffällig, beide betrieben innerhalb der Szene einen regen Waffenhandel und machten aus ihrer faschistischen Gesinnung kein Geheimnis. Bei Hausdurchsuchungen nach der Mordtat wurde neben einer Unzahl von NS-Devotionalien eine „Feindesliste“ gefunden, auf der tausende Personen mit ihren persönlichen Daten gelistet waren, darunter jene des Regierungspräsidenten Lübcke.

Ernst taucht nach Pressemeldungen elf mal im gesperrten NSU-Geheimbericht des hessischen Verfassungsschutzes auf. Beim Verfassungsschutz galt Ernst als „abgekühlter“ Aktivist. Er war Mitglied der NPD. Online war Ernst in einschlägigen Foren häufiger Kommentator und sonderte solche Posts ab wie „Entweder die Regierung dankt in Kürze ab, oder es wird Tote geben“. Gleichwohl teilte der Verfassungsschutz auf einer Pressekonferenz im Juni 2019 mit, Ernst sei ab 2009 von ihrem Radar verschwunden. Die beiden Angeklagten, Mitglieder der Nazi-Gruppierung „Freier Widerstand Kassel“, fielen schließlich bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel auf, auf der sich Lübcke für ein Flüchtlingsheim aussprach, und kommentierten dies in der Sitzung in abfälliger Weise. Die Verurteilung Ernsts ist sicher, der rechtsextreme Sumpf um ihn herum harrt weiterhin einer Aufklärung. In diesem Verfahren ist das nicht geschehen.

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"Der individuelle Nazi", UZ vom 30. Oktober 2020



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