Jürgen Kögel: Silkes zweiter Schatten. Dresden: Edition Freiberg 2019, 139 S., 9.95 Euro
Die Arbeit an dem erstaunlichen Text begann 1997: Ursprünglich sollte es eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte werden, Reste sind erkennbar. Das Geschehen setzt 1989 ein: die Endphase der DDR, Staatsfeier am 7. Oktober im Palast der Republik und Straßendemonstrationen, Menschenmengen vor Kirchen und „unzählige brennende Kerzen“, Hoffnungen auf eine „neue Wirklichkeit“ bei der größten Massenveranstaltung am 4. November auf dem Alexanderplatz: Sie stand für Millionen Bürger in „Aufbruchsstimmung“, für eine veränderte DDR. 1990 gingen dagegen jene auf die Straße, denen die Wiedervereinigung „unerwünscht“ war. Dabei treffen sich Kögels Protagonisten Ulf und Silke, die Ich-Erzählerin der Geschichte. Inzwischen wird diese Zeit der Wende, des Zusammenbruchs, der Konterrevolution differenzierter betrachtet: Aus dem Einheitsrausch sind zahllose Enttäuschungen geworden – es kommt auf den Standpunkt des Beurteilenden an. Was viele Menschen damals bestimmte, wird im Rahmen einer soziologischen Untersuchung in der möglichen Antwort erklärt: „Wir waren glücklich, weil wir geträumt haben.“ Das war schnell vorbei. – Silke hat einen Selbstmordversuch nach Ulfs Tod überlebt; ihr Erzählen ist der Weg, um ins Leben zu finden. Langsam bildet sich in Kögels Erzählung aus Erinnerungsfetzen ein Gesamtvorgang, den der Leser durch Sendungen des MDR – allerdings nur spät am Abend, nicht zur Hauptsendezeit – mit Analysen in der Art wie „Wem gehört der Osten?“ oder „Kriminalfälle der Einheit“ unterlegen kann: Kriminelle Machenschaften mit riesigen Verlusten für den Osten werden offengelegt; neben ehrlichen Helfern fanden sich zahlreiche Glücksritter ein, denen durch die Treuhand – die von der letzten DDR-Regierung eingesetzt wurde, was für eine Tat! – der Boden bereitet wurde.
Einheitliche Überblicke über diese Zeit sind nicht zu haben. Das trifft auch für Jürgen Kögels Erzählung zu: Splitternde Spiegel sind ein zentrales Symbol der Erzählung, sinnfällig für die Brechungen der Wirklichkeit, auch Werkzeug für Silkes Suizidversuch. Ähnlich vielfältig wirkt das Motiv des Engels, der für Unschuld, die schreitende Zeit und Geschichte steht; „schwarze Engel“ erinnern an Benjamins „Engel der Geschichte“, werfen Schatten, die Silke vor dem „Verbluten“ retten.
Silke Conradi, geboren 1976, erinnert sich an ihr zweites Leben, eine Liebe zwischen ihr, der Ostberlinerin, und Ulf, dem Westberliner; unterschiedliche, gegensätzliche Sozialisierungen stoßen aufeinander. Die Beziehung wird durch die Veränderungen 1989 möglich und wird durch den Unfalltod Ulfs beendet. Zwei Mütter mit Partnern gehören dazu, der eine monsterähnlich an Kraft, der andere ein „Kobold“, ein Musiker mit Zukunftsvorstellungen, Silkes „erstes Leben“. Verschiedene Zeitebenen ordnen diese Liebe in den gesellschaftlichen Prozess von 1989/90 ein: Eine Ebene ist das Soziologiestudium Silkes sieben Jahre später, sie wird gemeinsam mit anderen Soziologiestudenten mit einer Studie „über das Verhalten der ostdeutschen Bevölkerung im Herbst 1989“ beauftragt und arbeitet Vorgänge von 1989 auf. In Ereignisse und Zeitebenen will Silke „eine Art Ordnung“ bringen; sie kommentiert sich selbst, der Mitstudent Sebastian Fröbe ist erklärend beteiligt und übernimmt zehn Jahre nach den Ereignissen ihren letzten Auftrag, sich ihrer Erinnerungen anzunehmen.
Die Geschichte bietet Widersprüchliches zum offiziell verbreiteten Geschehen, das jubelnde Massen auf die Straßen trieb, ohne blutige Ereignisse. Die „Mauer“ erschien manchen Westberlinern, die sich „sicher gefühlt (hatten) im Schatten der Mauer“, als ein Schutz vor der „Horde von Feinden“, vor „den Eingesperrten, jeden Tag stand es so in der Zeitung“, die einbrachen, als die Mauer fiel. Andere sahen den Herbst 1989 als Aufstand eines Parteiflügels gegen die Alten, in dem die unzufriedenen Massen benutzt wurden und den Rebellen „gerade recht“ kamen. Der Freund von Silkes Mutter, Frühwald, gehört in Silkes erstes Leben: Der Musiker war am Festakt zum 40. Jahrestag der DDR beteiligt und erinnert sich, wie das Fest zerfiel, „die Angst führte Regie“. Silke schließlich begreift später, dass das neue Leben „viel böser, viel gefährlicher und unruhiger, auch viel hoffnungsloser“ als „im Osten“ wurde. In ihrer Studie stehen die Studenten vor dem Problem, dass das Verhalten der Menschen im Herbst 1989 allen Lehrmeinungen widerspricht. Sie suchen Antworten. Der Leser erfährt dabei von Silkes ostdeutschem Demokratieverständnis, dass sie für ihr Land eintritt und sich gegen Anarchie und Terrorismus wehrt; das wird sehr konkret, denn Ulf und Silke entdecken, als sie bei dem autonomen Terroristen Norbert Malicke wohnen, eine seiner Bomben. Sie ist die Ursache für Silkes Unfall, Ulfs Tod und für Silkes Selbstmordversuch.
Im Januar 1999 treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander. Silkes Erzählen findet zu seinem Ende. An ihrer Mutter sieht sie die Ergebnisse gespiegelt: Aus dem einstigen Aufbruch ist ein „politisches Geschäft“ geworden, bestimmt von Kälte und „aller Anfang und alles Ende und alles zwischendurch: Geld. Geld, Geld und nochmals Geld …“. Die Analyse der Soziologiestudenten geht auf ihr Ende zu und Sebastian fragt, seine Fragen als Ergebnis der Untersuchung betrachtend, ob 1989 nicht „Analogien? Zu hier? Und jetzt?“ aufweise. Der Analyse wird daraufhin wissenschaftliche Wertlosigkeit bescheinigt; sie wird abgebrochen. Der Stolz, friedlich in eine neue Ordnung und die Einheit gekommen zu sein, – jedenfalls keine Toten, worüber im Angesicht der zahlreichen Selbstmorde nachzudenken wäre! –, wird durch den Krieg in Serbien, an dem Deutschland beteiligt ist, ad absurdum geführt. Silke verschwindet im März 1999 aus Angst vor dem Krieg, aber auch vor dem Terroristen Malicke und hinterlässt ihr Erzähltes. Zurück bleibt ein zerbrochener Spiegel, nun Symbol des Todes.
Jürgen Kögel (geb. 1937) hatte nach 1989 die Schreibmotivation ebenso verloren wie bisherige Verlage. Insofern ist das Buch eine Beschreibung, wie man (wieder) zur Wirklichkeit und zum Erzählen findet. Der Autor, der auch Cellist in Jena und seit 1965 Mitglied des Berliner Sinfonie-Orchesters war, mit Konzertgastspielen in europäischen Ländern, in Japan, den USA und Hongkong, hat sich seit der Gründung des Vereins SchreibArt (Berlin 1992) engagiert, die Dokumente der Zirkel schreibender Arbeiter und deren literarische Nachlassenschaft aufmerksam und verantwortungsbewusst gesammelt und sie gegen die arrogant-überhebliche Verunglimpfung durch westliche Journalisten und deren penetrante Unwissenheit und Ahnungslosigkeit verteidigt. Er selbst war mehr als zwanzig Jahre in einem Berliner Zirkel, debütierte 1978 mit „Sprechen im Dunkeln“ Seine Geschichten, Essays und Romane beschreiben den Alltag, der sich bei genauem Hinsehen als vielschichtig, auch als gefährlich erweist, wie in „Silkes zweiter Schatten“: Das scheinbar eindeutige Geschehen des Herbstes 1989 und seiner Folgen, jubelnd begrüßt von sogenannten Bürgerechtlern, hat zwielichtige und vernichtende Seiten.