Kaum war die Tinte unter dem Urteil trocken, faselte Minister Altmaier etwas von „nicht notwendiger Umsetzung“, weil man solche Regelungen in Deutschland ja schon habe. Die Haltung der Regierung: EU ja, aber nur soweit sie den Profitinteressen dient. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai, das klare Arbeitszeitdokumentationen von den Unternehmen verlangt, wird von herrschender Politik und den Unternehmen missachtet. Der Kampf um seine Umsetzung wird eine große Kraftanstrengung der Gewerkschaften verlangen – und um diese Umsetzung muss es nun gehen.
Millionen von Überstunden bleiben in diesem Land unvergütet, weil Beschäftigte immer wieder an den hohen Hürden der Nachweisbarkeit ihrer Mehrarbeit scheitern. Die Profitgier der Unternehmer ist dafür wesentliche Ursache, aber sie erklärt noch nicht, warum dieser Gier offensichtlich keine wirksamen Grenzen in diesem Land gesetzt sind. Grundsätzlich gibt es solche Grenzen auch in Deutschland. Doch was für Grenzen sind das?
Da ist vor allem das Arbeitszeitgesetz von 1994, das inzwischen einige Gewerkschafter deswegen für verteidigenswert erachten, weil einige Unternehmer und bürgerliche Politiker es noch mehr verschlechtern wollen. Sie fordern demzufolge: „Hände weg vom Arbeitszeitgesetz!“ Doch es war dieses Gesetz aus der Ära der Kanzlerschaft Helmut Kohls, das das Tor zur sogenannten „Arbeitszeitflexibilität“ ganz weit aufstieß und mit seiner 60-Stunden-Woche bei nachträglichem Zeitausgleich erstmals auch den 8-Stunden-Tag bedrohte. Seitdem haben wir „Arbeitszeitkonten“. Eine ganze Generation von Beschäftigten hat sich so sehr an diesen Begriff und dieses Phänomen gewöhnt, dass sie nichts anderes mehr kennt. Erst kürzlich berichtete mir ein Beschäftigter, er habe nach seiner Einstellung noch gar nicht gearbeitet und nur „Minusstunden“ geleistet. Der Chef habe für ihn zur Zeit keine Arbeit und habe sogar bereits seinen Urlaub als Minusstunden verbucht. Keine Rede vom unternehmerischen „Annahmeverzug“ im § 615 BGB. Keine Arbeit, kein Lohn. Minusstunden. Das sind dann die Exzesse dieser Art von Zeit- und Lohndiebstahl.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die große Mehrzahl der Betriebe, die Arbeitszeitkonten praktizieren, dies mit Hilfe von Tarifverträgen machen, denen Gewerkschaften ihre Zustimmung erteilten, und mit Hilfe von Betriebsräten, die ebenfalls oft gar nichts anderes mehr kennen als die Welt der Minus- und Plusstunden. Parallel dazu haben die Gewerkschaften sogar massenhaft von ihrem Recht Gebrauch gemacht, unterhalb des Gesetzesstandards den Ausgleichszeitraum für Arbeitsstunden noch zu verlängern, und zwar auf bis zu einem Jahr. Die dadurch ermöglichten Arbeitszeitvolumina machen jede Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit der Arbeitszeitgrenzen im günstigsten Fall zu einer „speziellen Wissenschaft“, im ungünstigsten Fall einfach unmöglich oder jedenfalls manipulierbar.
Daneben haben wir eine Rechtsprechung, die die Durchsetzung von Überstundenvergütung von absolut unzumutbaren Voraussetzungen abhängig macht: Beschäftigte müssen genauestens darlegen und beweisen, wann Überstunden angefallen sind. Zwar muss der Unternehmer beweisen, welche Arbeiten dem Beschäftigten zugewiesen wurden, aber der wiederum muss darlegen und beweisen, dass alle Überstunden auf Anordnung, mit Billigung oder mindestens mit Duldung durch den Unternehmer geleistet wurden. Daran scheitert sehr oft die Vergütung der Überstunden, und Klagen darauf werden dann abgewiesen.
Warum eigentlich? Es gibt doch auch im Arbeitszeitgesetz einen sogenannten Arbeitszeitnachweis, den der Arbeitgeber führen muss. Dieser erfasst jedoch nur die über die „werktägliche Arbeitszeit hinausgehende“ Arbeitszeit und nicht die tägliche Arbeitszeit selbst, einschließlich der Ruhepausen und Ruhezeiten. Hinzu kommt, dass dieser Arbeitszeitnachweis nur eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber dem Staat ist und nicht gegenüber dem einzelnen Beschäftigten. Wenn der Arbeitgeber keine Aufzeichnungen führt, kann er mit einem Bußgeld belegt werden, aber Auswirkungen auf die Rechte des Beschäftigten, etwa durch eine Beweiserleichterung, hat es nicht. Der Beschäftigte hat nicht einmal ein Auskunftsrecht. In einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein aus dem Jahre 2011 heißt es dazu: „Der Arbeitgeber ist grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, dem Arbeitnehmer Auskünfte zu erteilen, damit dieser Ansprüche durchsetzen kann.“