Der große Schlamassel

Kolumne von Patrik Köbele

Drei SPD-Ortvereine im Essener Norden kündigen eine Demonstration gegen die Unterbringung weiterer Flüchtlinge unter dem Motto „Der Norden ist voll“ an. Die Kreiskonferenz der DKP diskutiert über Gegenaktionen. Wir wären Sozialdemokraten gegenüber gestanden, mit denen wir in der Vergangenheit um den Erhalt von Schwimmbädern und Bibliotheken gekämpft hatten. Nach Intervention der Landes-SPD wird die Demo abgesagt.

Sahra Wagenknecht sagt: „Wer das Gastrecht missbraucht, hat das Gastrecht verwirkt.“ Der Gastbegriff verwischt Ursachen und Verursacher der Flucht, sein Gebrauch signalisiert mit den Verursachern der Flucht als „Gastgeber“ in einem Boot zu sitzen.

In Essen will sich eine Bürgerwehr gründen, Gründungslokal ausgerechnet ein Zentrum von Künstlern und Kulturschaffenden mit alternativem Image. Der Gründer und Besitzer, der sicherlich keine Sympathien für Nazis hat, verteidigt die Gründungsveranstaltung, man müsse Bürger ernst nehmen, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Nach antifaschistischen Protesten schließt er das ganze Haus in der betreffenden Zeit wegen der Befürchtung von Gewalt von links und rechts.

Drei Beispiele, die zeigen, diese Krise führt zum Verlust an Orientierung, wenn der grundlegende Kompass fehlt – die Klassenfrage.

Die Flüchtenden kommen wegen Kriegen, wegen Ausbeutung, wegen Zerstörung der Natur, die ein Auskommen ermöglicht. An allem wird verdient und zwar nicht zu knapp. Auch diese Profite sind die Grundlage dafür, dass 62 Superreichen die Hälfte des Weltvermögens, dass zehn Prozent der BRD-Bevölkerung 52 Prozent des BRD-Vermögens gehört.

Die Flüchtenden, die das können, versuchen in die Länder zu kommen, in denen sie Chancen vermuten. Dazu gehört die BRD. Die herrschende Klasse versucht sie zu missbrauchen für imperialistische Strategie nach außen („die fliehen vor Assad“) oder nach innen („kein Mindestlohn für Flüchtlinge“).

Die Kosten der Flucht tragen nicht die Verursacher, nein, die Kosten der Flucht werden über die Kommunen und Länder so verteilt, dass sie wiederum die Armen treffen, die „Inländer“ und die Flüchtenden. Denn dadurch wird natürlich die Schuldenlast der Stadt Essen, die jetzt schon bei weit über drei Milliarden Euro liegt, steigen und natürlich werden diese gestiegenen Schulden wieder der Grund für Schließungen, Kürzungen und Privatisierung sein.

Die Flüchtenden kommen aus Ländern, in denen die Gewalt regiert, in denen die NATO und die führenden Imperialisten die staatliche Ordnung zerstört haben. Dort gilt das Recht des Stärkeren und in manchen Gebieten überlebt sicher nur der, der in der Lage ist seinen Lebensunterhalt zu „organisieren“ – egal wie. Wer Monate in riesigen Zelten, fast ohne Privatsphäre gelebt hat, wer dort jetzt seine Kindheit oder Pubertät verbringt, der wird oft nicht zum „braven Engelchen“ gemacht werden. Das soll man keineswegs gut finden, aber wer aufhört nach den Ursachen zu fragen, bei dem geht der Kompass verloren wie bei den drei SPD-Ortsvereinen.

Wir brauchen nicht mehr Polizei, wie es jetzt selbst manche Linke fordern. Es würde doch schon reichen, wenn der permanente Schutz von Aufmärschen von Rassisten und Nazis eingestellt und die Behörde des Vertuschens von Naziverbrechen aufgelöst würde. Auch Schlapphüte können umgeschult werden.

Aber auch: Die Menschen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen, die jetzt schon in armen Vierteln wohnen und noch mehr Verarmung fürchten, sie haben den richtigen Instinkt. Sie geben nur die falsche Antwort, wenn sie in den Flüchtlingen die Verursacher sehen. Sie haben auch recht, wenn ihnen unsere allgemeine Antwort: „Wir müssen gemeinsam kämpfen“ nicht reicht. Obwohl sie richtig ist. Wir brauchen konkrete Ziele. Der Leerstand von Gebäuden und Wohnungen muss zu Aktionen führen, die diesen kennzeichnen und bezahlbaren Wohnraum für alle fordern. Der Reichtum, der durch Kriege und Rüstungsexporte entsteht, muss mit Firmen und Inhaber benannt werden. Deren Profite müssen beziffert und zur Beschlagnahme markiert werden, damit die soziale Not der Armen, der Arbeitslosen und der Flüchtlinge beendet werden kann.

Wir müssen die Ursachen benennen und die Verursacher, wir müssen ihren Reichtum anprangern, der auf Ausbeutung und Blut beruht und mit dem wir in der Lage wären, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, hier, in Europa, in der Welt.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Der große Schlamassel", UZ vom 29. Januar 2016



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Stern.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit