Im Jahr 2011 bombardierten Flugzeuge der NATO Libyen. Offiziell sollten sie die Regierung Gaddafis daran hindern, schwerste Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die Kriegsparteien damals hatten keine Mühe, den Krieg zu verkaufen. Denn die Bilder der Demonstrationen in Tunesien und Ägypten im Frühjahr 2011 hielten die Menschen in einem Wahn gefangen, der den Blick auf die Ereignisse in Libyen trübte.
Die Gräuelberichte erwiesen sich später als Fake News. Und schon bevor die Bomben fielen, sprachen Vertreter von Staaten und ausländischen Unternehmen mit den Aufständischen über die zukünftige Verteilung der libyschen Reichtümer – ein Vorgang wie aus dem Lehrbuch des Antiimperialismus.
Noch nicht entschieden
Heute sind in Libyen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung und das Land ist zerstört. Aber nicht alles ist zerstört. Öl wird wieder in großer Menge gefördert und vorerst gemäß internationalen Vereinbarungen verkauft, unabhängig davon, wer gerade die militärische Kontrolle über die Förderanlagen hat. Dafür hat die US-Armee 2014 gesorgt, als ihre Sondereinheiten einen Tanker im Mittelmeer aufbrachten, der Öl aus dem Osten Libyens enthielt. Es sollte an der Regierung vorbei verkauft werden. Und die libysche Küstenwache hindert im Auftrag der EU die Menschen daran, das Land, die Hölle der Lager, zu verlassen. Der Kampf zwischen den Milizen und ihren ausländischen Förderern um die Reichtümer des Landes ist noch nicht entschieden.
Möglicherweise Verbrechen
Am 17. März 2011 beschloss der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1973 die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen und erfüllte damit die Forderung der libyschen Aufständischen. Russland und China enthielten sich der Stimme. Es war ein Wendepunkt für die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den NATO-Staaten.
Am 16. März 2011 hatte Australiens Außenminister Kevin Rudd den UN-Sicherheitsrat davor gewarnt, die Libyen-Krise zu einem weiteren Versagen der internationalen Gemeinschaft bei der Rettung unschuldiger Menschen werden zu lassen. Er war nur einer von vielen, die vor einer humanitären Katastrophe warnten. Flächenbombardements, Massenvergewaltigungen, ausländische (schwarzafrikanische!) Söldner – es wurden alle Register gezogen, um zu zeigen, dass eine Militärintervention unumgänglich sei. So heißt es in der UN-Resolution 1973, es gebe „weitverbreitete und systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, die möglicherweise Kriegsverbrechen darstellen“. Deshalb sollten die UN-Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Zivilisten und bewohnte Gebiete vor Angriffen der libyschen Armee zu schützen.
Schon zwei Tage nach dem Beschluss forderten die Teilnehmer einer internationalen Konferenz in einem Kommuniqué die libyschen Truppen auf, sich „aus allen Gebieten zurückzuziehen, in die sie mit Gewalt eingedrungen sind“ – auf libyschem Staatsgebiet, wohlgemerkt.
Stunden nach der Konferenz gab ein Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums bekannt, dass am 19. März 2011 um 16.45 Uhr (GMT) französische Kampfflugzeuge mit dem Angriff auf das libysche Militär begonnen hatten. Der erste Angriff galt einem Militärkonvoi und Artilleriegeschützen bei Bengasi, einer Stadt, die von Aufständischen kontrolliert war. Es folgte der Einsatz der US-amerikanischen und britischen Streitkräfte, die mehr als 110 Tomahawk-Marschflugkörper gegen Flugabwehranlagen der libyschen Regierung abfeuerten.
NATO bombt,
Dschihadisten marschieren
Der weit gefasste Text der UN-Resolution wurde von den Angreifern gnadenlos überzogen. Ein Beispiel bot ein Angriff der NATO in der Nähe von Bengasi. Es war ein Befreiungsschlag „ohne Schonung“: „Zerstörte Fahrzeuge und Leichen säumten demnach den Weg nach Bengasi, noch Stunden nach der Attacke seien immer wieder Munitionsbestände explodiert“, heißt es bei Wikipedia. War das die Umsetzung einer Flugverbotszone? War es nicht vielmehr Luftunterstützung für die Aufständischen? „Nein“, behauptete ein Sprecher des US-Militärs. Doch die Luftunterstützung der NATO hat die dschihadistischen Aufständischen zum Sieg geführt.
Für all die Behauptungen über Massenvergewaltigungen, Bombardierungen von Wohngebieten, Söldner, die Grundlage für die UN-Resolution waren, gab es keine Beweise. Stattdessen aber sehr wohl dafür, dass solche Behauptungen zum Teil gezielt und bewusst in Umlauf gebracht wurden.
Warum hat Russland also die Resolution geduldet? Die russische Regierung wusste aus Militär- und Geheimdienstinformationen, dass die behaupteten Kriegsverbrechen nicht stattfanden. Hatte sich der damalige Staatspräsident Medwedjew Zugeständnisse vom Westen erhofft? Wenn ja, sah er sich getäuscht. „Die Nato-Länder haben die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates auf ihre eigene Weise erfüllt, indem sie sich auf die Seite der Aufständischen gestellt haben“, sagte Außenminister Lawrow im April 2011. Der Schaden war da schon angerichtet. Was in Generationen aufgebaut worden war, wurde in Tausenden NATO-Angriffen zerstört. Es war die letzte Enthaltung Russlands im Sicherheitsrat.
Ein Land zerstört
Zu den vielen Facetten Libyens vor dem Krieg gehörte die wirtschaftliche und soziale Stabilität. Libyen verfügt über die größten Erdölreserven Afrikas. Zugleich ist die Einwohnerzahl des Landes recht gering – beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung des Landes.
Sozialpolitische Maßnahmen wie Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Strom, Benzin und Gas, Wohnungsbauprogramme, Erhöhung von Mindestlöhnen machten Libyen zum Land mit dem geringsten Wohlstandsgefälle Afrikas. Tatsächlich hatte Libyen vor dem NATO-Angriff mit etwa 47600 km asphaltierten Straßen und etwa 35600 km Pisten eine für die Region vergleichsweise sehr gute Infrastruktur.
Es gab sogar Pläne für die Zeit nach dem Öl. Mit der systematischen Förderung der eiszeitlichen Süßwasservorkommen in der Sahara und damit Landbewässerung sollte Libyen von Lebensmittelexporten unabhängig und sogar zu einem Agrarexportstaat werden. Das Projekt hätte gewaltige Bildungs- und Infrastrukturmaßnahmen bedingt. Ob die Kosten tragbar gewesen wären ist ebenso unsicher wie die Frage der Nachhaltigkeit. Die Angriffe der NATO haben dieses Projekt gestoppt.
Zur Flucht getrieben
Der Krieg hat alles geändert. Infrastruktur wurde zerstört. Mehr als 400000 Libyer wurden durch die Konflikte seit 2011 zu Binnenflüchtlingen. Hunderttausende andere sind nach Ägypten und Tunesien geflüchtet. Sie sind für die Nachbarländer eine soziale Herausforderung. In den Kämpfen um die Hauptstadt Tripolis werden wieder Tausende oder Zehntausende fliehen müssen. Katastrophal ist die Situation von Migranten, die aus anderen Ländern nach Libyen kamen, um von dort aus zu versuchen, nach Europa zu gelangen.
Doch die Küstenwache funktioniert. Sie wird von der EU mit Milliardenbeträgen aufgebaut und operiert im Auftrag der international anerkannten Regierung Libyens. Die Flüchtlinge, die sie im Mittelmeer aufgreift, werden in die Lager in Libyen gebracht. Als „KZ-ähnliche Verhältnisse“ beschrieben deutsche Diplomaten die Zustände in den sogenannten Privatgefängnissen.
Kampf der Konzerne
Libyen verfügt über 6 Mrd. Tonnen bekannter Ölreserven – das war und ist ein großer und erstrebenswerter Preis. Sobald 2011 deutlich wurde, dass ein Aufstand gegen Gaddafi im Gange war, begannen Verhandlungen europäischer Regierungen und Ölkonzerne mit Vertretern der Aufständischen.
Nach Informationen der französischen Zeitung „Libération“ hat es bereits am 3. April 2011 ein Abkommen zwischen der französischen Regierung und dem libyschen Übergangsrat gegeben, in dem 35 Prozent der Ölexporte für das französische Unternehmen Mobil reserviert würden.
Das Abkommen wurde von beiden Seiten dementiert. Doch ist unbestritten, dass die Aufständischen von vornherein klar machten: Länder, die sich am Sturz Gaddafis beteiligt hatten, würden bei zukünftigen Ölverträgen bevorzugt.
Vier Unternehmen ließen um den Großen Preis kämpfen: Total, ENI, BP und Shell. BP und Shell hatten schlechte Voraussetzungen. BP besaß keine Ölförderanlagen, sondern wollte 2011 gerade mit Probebohrungen beginnen. Shell arbeitete daran, eine Verladestation für verflüssigtes Erdgas zu modernisieren.
Der italienische Energiekonzern ENI ist seit 1959 in Libyen aktiv und hat das Land danach nicht wieder verlassen. ENI hatte nach 2003 lukrative Verträge geschlossen, seine Förderanlagen befinden sich zum großen Teil im Westen und Südwesten des Landes, also in Gebieten, die während des NATO-Angriffs lange unter Kontrolle der Regierung geblieben waren. Der italienischen Regierung bereitete das Kopfschmerzen – wie sollte sie sich im Krieg verhalten? Um es mit keiner Seite vorschnell zu verderben, beteiligten sich italienische Flugzeuge am NATO-Angriff – aber, wie ein Militärsprecher betonte, ohne einen Schuss abzugeben.
Alles in allem besaß ENI eine herausragende Rolle und produzierte 273 000 Barrel Öl am Tag. ENI betrieb auch eine Pipeline, mit der jährlich 11 Milliarden Kubikmeter Öl nach Sizilien transportiert werden konnten. Total dagegen hatte den Vorteil, dass es ein Ölfeld im Mittelmeer kontrollierte, dessen Produktion vom Krieg nicht beeinflusst wurde.
Doch in dem Maße, wie der Angriff erfolgreich war, Gaddafi gestürzt und eine neue Regierung installiert wurde, zerstoben die Träume vom Großen Preis. Nach einem kurzen Aufschwung 2012, während dem die Ölproduktion fast das Vorkriegsniveau erreichte, sank die Förderleistung ins Bodenlose und erreichte 2015 nur noch 288 000 Barrel – noch weniger als selbst 2011. Die Karten wurden neu gemischt.
Marionetten der Mächte
Nach der Militärintervention gab es einen kurzen Waffenstillstand, die Kräfte mussten sich neu sortieren und internationale Verbündete suchen. Wahlen fanden statt, wenn auch mit minimaler Beteiligung. In dieser Zeit frohlockte die Grüne-EU-Abgeordnete Franziska Brantner – sie hatte schon die Errichtung der Flugverbotszone begrüßt –, es gebe Herausforderungen, aber das Land sei voller Hoffnung, nach vier Jahrzehnten Diktatur ein neues Libyen aufzubauen.
Dabei hatte der Krieg um die Reichtümer des Landes erst begonnen. Nach langen Kämpfen zwischen rivalisierenden Milizen ist das Land heute geteilt. Einen kleinen Teil des Landes kontrolliert – noch – die „international anerkannte“ Regierung Sarradsch in Tripolis, die sich auf überwiegend islamistische Milizen stützt. Weitere Teile des Landes werden von Berbern in einer Art Autonomie kontrolliert. Im Osten – und mit Kontrolle über den größten Teil des Landes – herrscht die Regierung in Tobruk, die mit General Haftar und seinen Milizen verbündet ist.
Die beiden europäischen Staaten mit den unmittelbarsten Interessen in Libyen, also Frankreich mit dem Ölkonzern Total und Italien mit ENI, stehen dabei auf unterschiedlichen Seiten. Offiziell unterstützen beide Staaten die Einheitsregierung Sarradsch in Tripolis. Faktisch unterstützt die italienische Regierung mit Spezialeinheiten Sarradsch und unterhält Militärstützpunkte in Tripolis und Misrata. Frankreich dagegen unterstützt seit spätestens 2015 General Haftar und half ihm, seine Truppen aufzubauen. Frankreichs Militäraktionen in Niger, Tschad und Mali benötigen ein stabiles Umfeld. Damit hat Frankreich Interessen, die weit über die Ölförderung hinausgehen und sieht sie am ehesten von Haftar geschützt.
Welcher Kolonialherr siegt?
In Libyen lassen die beiden EU-Länder Frankreich und Italien ihre Verbündeten auf unterschiedlichen Seiten kämpfen. Und so sagte der französische Außenminister Le Drian nach einem Treffen mit seinem italienischen Amtskollegen – ganz im Geiste der alten Kolonialpolitik: „Ohne ein stabiles französisch-italienisches Abkommen kann es in Libyen keinen Fortschritt geben.“
Am Kampf um den Großen Preis beteiligen sich noch andere Staaten. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Russland unterstützen Haftar. Und in einem Telefonat im April 2019 hat auch US-Präsident Trump Haftar seine Unterstützung zugesagt. Die Türkei und Katar als Unterstützer der Moslembrüder stehen auf Seiten von Sarradsch und seiner islamistischen Milizen.
Trotz der vielfältigen Unterstützung, die Haftar genießt, kommt sein Angriff auf Tripolis nicht so recht voran. Er wird womöglich versuchen, das Öl unter seiner Kontrolle zu Geld zu machen. Vielleicht lassen ihn die USA diesmal gewähren. So ist immer noch nicht klar, wie der Große Preis verteilt werden wird.