Der größte Streik der Geschichte

Maxim Gren im Gespräch mit K. Hemalata

Im Januar fand in Indien der größte Streik in der Geschichte der Menschheit statt. UZ sprach mit K. Hemalata, der Ersten Vorsitzenden des indischen Gewerkschaftsbundes „Centre of Indian Trade Unions“ (CITU) über den Mega­streik, über Fortschritte bei der Organisierung der Werktätigen und über Auswirkungen auf die derzeit stattfindenden Parlamentswahlen.

CITU-Demonstration

CITU-Demonstration

( CITU)

UZ: Zu Beginn des Jahres sind über 200 Millionen Werktätige in Streik getreten. Der Streik wurde weitgehend als großer Erfolg wahrgenommen, es gab merklichen Stillstand in den verarbeitenden Industrien, dem Transportwesen und anderen Schlüsselsektoren vieler indischer Bundesstaaten. Hat Sie dieses Ergebnis überrascht? Welche Schlüsse ziehen Sie in Bezug auf die Wirksamkeit des Streiks und welche Rückmeldungen haben Sie aus dem Land erhalten?

K. Hemalata: Die große Beteiligung war keine Überraschung. Sie reflektiert lediglich den Unmut der Menschen über die Politik der Regierung. Im Vergleich zu früheren Streiks haben Arbeiter aus mehr Bereichen teilgenommen.

Dieses Mal haben auch die Bauern und Landarbeiterorganisationen zu einem Agrarstreik, dem „Rural Bandh“, aufgerufen, um auch die ländlichen Gebiete zu bestreiken. Dieser Aufruf ist das Resultat unserer Bemühungen, die Bauernschaft in den Kampf für die Forderungen der Werktätigen einzubeziehen. Im September letzten Jahres haben wir von CITU zum Beispiel eine Arbeiter-Bauern-Demonstration mitorganisiert und die Forderungen der Bauern nach Mindestpreisen für die Ernte, Schuldenerlass, einem Mindestlohn und einer umfassenden Gesetzgebung zur sozialen Absicherung unterstützt.

Diese massive Kampagne hatte große Resonanz. Eine halbe Million Arbeiter und Bauern haben an dem Marsch teilgenommen. In Anknüpfung daran haben wir ebenfalls die Kämpfe und die Kampagnen der Bauern unterstützt. All das hat dabei geholfen, eine so große Beteiligung am 8. und 9. Januar zu erreichen.

UZ: Es gibt also eine verbesserte Zusammenarbeit der Werktätigen verschiedenster Bereiche und der Bauern. In Indien gibt es jedoch auch einen Widerspruch zwischen „formellen“ und „informellen“ Werktätigen, also solchen ohne jeglichen Arbeitsvertrag. Die Mitgliedschaft in Gewerkschaften ist im Vergleich zur gesamten Arbeiterschaft sehr gering. Wie war es möglich, auch die „unorganisierten“ Werktätigen zu mobilisieren?

K. Hemalata, Erste Vorsitzende des indischen Gewerkschaftsbundes „Centre of Indian Trade Unions“ (CITU)

K. Hemalata, Erste Vorsitzende des indischen Gewerkschaftsbundes „Centre of Indian Trade Unions“ (CITU)

( CITU)

K. Hemalata: Obwohl CITU nicht die größte der Gewerkschaften auf Bundesebene ist, so sind wir doch sehr aktiv und führen die Kämpfe an. So gut wie alle Gewerkschaften haben den Streik unterstützt, außer die der Regierung nahestehende „Bharatiya Mazdoor Sangh“ (BMS), die auch den hindunationalistischen „Rashtriya Swayamsevak Sangh“ (RSS) unterstützt.

Die Werktätigen des „informellen“ Sektors sind nicht durch das Arbeitsgesetz, die Sozialversicherung, das Gewerkschaftsgesetz und so weiter abgesichert. Die Bauern und Landarbeiter miteinbegriffen, arbeiten jedoch gut 93 Prozent der Menschen in solchen Verhältnissen. Viele der „informellen“ Werktätigen sind mitmarschiert, da wir mit unserer Kampagne aktiv auf sie zugegangen sind. Wir haben eine Menge Material veröffentlicht, hunderte Millionen Flugblätter, die auf jede einzelne Angelegenheit der jeweiligen Arbeitsbereiche und Sektoren der angesprochenen Werktätigen eingegangen sind. Zum Beispiel gibt es etwa 100 Millionen sogenannte „Projektarbeiter“, die staatliche Programme umsetzen, unter anderem in den Bereichen Bildung und ländliche Entwicklung. Die meisten sind Frauen und sie werden nicht als Angestellte anerkannt, noch nicht einmal auf Basis von Zeitverträgen. Sie arbeiten mehr als zehn Stunden am Tag, werden von der Regierung angeworben und von den Behörden bezahlt. Wenn sie nicht ordnungsgemäß arbeiten, werden Disziplinarmaßnahmen gegen sie erhoben oder sie werden einfach entlassen. Die „Triparti Indian Labour Conference“, – ein Gremium aus Gewerkschaften, Regierung und Arbeitgebern – hat sich dafür ausgesprochen, dass diesen „Projektarbeitern“ der Mindestlohn gezahlt werden muss und sie in das Sozialsystem integriert werden. Die Regierung allerdings erkennt sie immer noch nicht als Angestellte an und die Empfehlungen der Konferenz werden nicht umgesetzt. Also organisieren wir diese Werktätigen.

Ähnlich ist es mit den Arbeitern der Automobilindustrie. Große Teile der Streikenden in diesem Sektor sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Sie haben gemerkt, dass die Forderungen der Gewerkschaften auch ihre Forderungen sind. Nachdem sie die Flugblätter gelesen hatten, kamen sie zu uns in die Büros, sagten, sie wollten teilnehmen und fragten, was sie tun könnten.

UZ: Die Hauptforderungen des Streiks sind in der „Charta der 12 Forderungen“ formuliert worden. Diese wird allerdings seit 2014 von der Regierung konsequent ignoriert. Hat es nach dem Megastreik Zeichen einer Dialogbereitschaft gegeben?

Bankangestellte während des zweitätgigen landesweiten Streiks am 8. und 9. Januar

Bankangestellte während des zweitätgigen landesweiten Streiks am 8. und 9. Januar

( CITU)

K. Hemalata: Nein, nicht im Geringsten. Selbst am Tage des Streiks haben Regierungsfunktionäre davon gesprochen, dass der Streik keine Wirkung habe, und das, obwohl die Straßen leer waren und die Fabriken stillstanden. Sie haben darauf verwiesen, dass der BMS und andere ihnen wohlgesonnene, kleine Gewerkschaften sich nicht daran beteiligt hätten und daher der Streik ungerechtfertigt sei. Noch am selben Tag haben sie dann den „Trade Union Amendment Act“ im Parlament verabschiedet, der den Anerkennungsprozess und die Wählbarkeit für Gewerkschaften erschwert. Praktisch alle zentralen Gewerkschaften sind in Opposition zu diesem Gesetz, da es nur die regierungsnahen Gewerkschaften stärkt. Die ganze Antwort der Regierung auf den Streik war außerordentlich ignorant gegenüber den Forderungen der Werktätigen.

UZ: Welche Wirkung des Streiks erwarten Sie auf die Parlamentswahlen im April und Mai, auch hinsichtlich der nun verbesserten Koordinierung der Opposition?

K. Hemalata: Wir hoffen natürlich, dass es eine solche Wirkung geben wird, da der Streik die Wut der Mehrheit der Bevölkerung reflektierte. Allerdings gibt es da auch viele andere Einflüsse. Nach dem Streik haben die zentralen Gewerkschaften eine „Nationalkongress“ organisiert und dort eine „Arbeiter-Charta“ mit Forderungen für die Wahlen verabschiedet. Wir fordern, dass die Regierungspartei aus dem Amt gejagt wird. Das ist das erste Mal, dass die Gewerkschaften in dieser Form zusammengekommen sind und ihre Einigkeit demonstriert haben angesichts ihrer verschiedenen politischen Ausrichtungen und Parteinähe.

Dieses Mal konnten wir uns jedoch auf das einheitliche Ziel einigen, die BJP aus der Regierung zu entfernen. Man kann sagen, dass die Werktätigen in den letzten Jahren mehr und mehr zusammengerückt sind. Wir von CITU haben uns dazu bekannt, mit der Linken Bewegung und der CPI (M) verbunden zu sein, da sie aus unserer Sicht die einzige Kraft darstellt, die sich konsequent gegen die Verschlechterung im Arbeitsgesetz und gegen die Privatisierungen stellt. Obwohl wir im Parlament nicht stark vertreten sind, so haben wir doch wichtige Arbeit und Opposition von außerhalb machen können.

Der Sieg über die BJP kann jedoch nur ein erster Schritt sein, um die Kämpfe gegen die neoliberalen Reformen zu intensivieren. Für diese Kämpfe ist es besonders wichtig, gegen die Spaltung der Gesellschaft und für die Einigkeit der Werktätigen einzutreten.

Streikdemonstration während des Generalstreiks in Palwal im Bundesstaat Haryana

Streikdemonstration während des Generalstreiks in Palwal im Bundesstaat Haryana

( CITU)

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"Der größte Streik der Geschichte", UZ vom 26. April 2019



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