1957 wandten sich bundesdeutsche Physiker mit einer Erklärung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr

Der Griff nach der deutschen Atombombe

Von Walter Bauer/UZ

Wenn jemand, der gerade dabei ist, ein historisches Thema wie „Der Griff nach der deutschen Atombombe“ und – damit im Zusammenhang – die damalige bundesdeutsche Widerstandsbewegung zu bearbeiten, in der UZ lesen muss „Die Bombe für Deutschland“ werde wieder gefordert, bei dem kann das Gefühl eines weiteren „historischen Rückschlages“ aufkommen.

Wir feiern dieses Jahr den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution. Eine ihrer Auswirkungen war, dass die Möglichkeit entstand, eine internationale Friedenspolitik zu verwirklichen. Die Initiativen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten für Abrüstung, militärische Konfliktbewältigung, z. B. bei der Einrichtung atomwaffenfreier Zonen (1956/57 der Rapacki-Plan – benannt nach dem damaligen Außenminister der Volksrepublik Polen), für einen Atomwaffensperrvertrag usw. sind ja international anerkannt und wurden oft gewürdigt. Historisch sind heute die Sowjetunion und ihre Abrüstungspolitik Teil der – gewiss bis heute fortwirkenden – Geschichte. Doch der Ruf Deutschlands nach der Atombombe ist es nicht. Die Forderungen von Politik und Militär nach der Verfügungsgewalt, dem Besitz und vielleicht dann auch der Produktion wird wieder laut erhoben.

Steht die Atomkriegsgefahr wieder verstärkt auf der Tagesordnung? Ist eine Bewegung gegen Atomwaffen, vor allem in deutscher Hand, eine aktuelle Notwendigkeit? Es scheint heute alles möglich, was bis 1989/90 noch in langwierigen Verhandlungen und Verträgen der beiden Atommächte, der USA und der Sowjetunion, als menschheitsvernichtende Kriegsgefahr eingedämmt werden konnte. In den 1950er Jahren stand diese Frage für die Friedensbewegung schon einmal an erster Stelle. Der Ostermarsch ist aus der damaligen Antiatombewegung entstanden. Wird diese Frage wieder an die erste Stelle der Handlungsagenda der Friedensbewegung rücken müssen?

Adenauers Traum von der deutschen Atombombe

Gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit den Ergebnissen der eigenen Forschung geschieht, gegen das Engagement von Forschern bei der Schaffung immer schrecklicherer Waffensysteme wandten sich nach den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki in den 40er und 50er Jahren viele Wissenschaftler. Die Erkenntnis nahm zu, dass sich jeder Forscher über die Stellung und die Folgen seiner Arbeit zu den großen Problemen der Menschheit Rechenschaft geben müsse, dass die Zukunft in der Hand der Menschheit liegt, aber „auch ihre Selbstvernichtung durch den Missbrauch des größten Geschenks, der tiefsten Einsicht in unsere Welt“, so damals der Physiker Walther Gerlach.

1957, am 12. April, wurde über die Presse das „Göttinger Manifest“ von 18 bundesdeutschen Atomforschern bekannt – unter ihnen waren Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker, Walther Gerlach und die Nobelpreisträger Max Born, Werner Heisenberg sowie Max von Laue. Es handelte sich um führende Wissenschaftler der Kernforschung und Mitglieder von staatlichen Organisationen, die mit der Nutzung der Kerntechnologie beschäftigt waren. Einige hatten auch schon während des Zweiten Weltkrieges im Uranprojekt des faschistischen Deutschlands mitgewirkt. Doch dort bemühte man sich vergeblich in Großversuchen mit aus Norwegen „importiertem“, d. h. gestohlenem, „schwerem Wasser“, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion zu erzielen. Otto Hahn, der wie andere deutsche Atomphysiker als Internierter in England vom ersten Atombombenabwurf am 6. August 1945 erfuhr, war damals so bestürzt, dass er sich das Leben nehmen wollte. Ein Jahr später legte er jedoch in seiner Nobelpreisrede die Verantwortung „in die Hände der Menschheit“ – als müsse man als Wissenschaftler nicht selbst Verantwortung übernehmen. (siehe auch die UZ vom 24. Juli 2015). Nun gehörte er zu jenen, die Verantwortung übernahmen.

Die Erklärung der „Göttinger 18“ war eine Reaktion auf die am 5. April veröffentlichte Aussage von Bundeskanzler Adenauer, in der er taktische Atomwaffen lediglich als eine „Weiterentwicklung der Artillerie“ charakterisierte. Sie richtete sich gegen die vor allem von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß angestrebte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Adenauer hegte immer, ohne Absprachen mit Regierung und Parlament, den Traum, neben den USA und der Sowjetunion eigene Atomwaffen zu besitzen. Er fand es unerträglich, dass zwei große Staaten in der Welt allein im Besitz von nuklearen Waffen waren. Ganz im Geheimen plante er, mit Frankreich, da sich die Bundesrepublik zwei Jahre vorher in den Pariser Verträgen verpflichtet hatte, keine Atomwaffen zu produzieren, die Atomwaffenproduktion im Ausland zu organisieren. Denn immer noch war er der Überzeugung, wie er in einer Kabinettsitzung am 19. Dezember 1956 feststellte, dass es aus sicherheitspolitischen Gründen ratsam sei, sich unabhängig zu machen und selbst nukleare Waffen herzustellen.

Die Wissenschaftler setzten sich ausdrücklich für die friedliche Verwendung der Atomenergie ein. In ihrer Erklärung hieß es unter anderem: „Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als ‚taktisch‘ bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als ‚klein’ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ‚strategischen’ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. […] unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns […] mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.“

Adenauer kritisierte die Erklärung als „Einmischung in seine Politik“, doch in der Öffentlichkeit fand das Manifest ein unerwartetes breites Echo. Im eigenen Land wie international.

Im November 1957 kam noch ein Geheimprotokoll mit Frankreich und Italien über die Produktion von Atomwaffen zustande. Doch die Strategie der USA machte diese Abmachung zunichte. Die USA wollten auch die Bundesrepublik in ihre Atomwaffenstrategie einbinden, dazu sollte die Bundeswehr die Trägersysteme liefern und die USA die Atombomben. Diese „nukleare Teilhabe“ konnte Adenauer nicht befriedigen, aber auch nicht grundsätzlich ablehnen. Er plante weitere geheime Abmachungen über die Produktion von Atomwaffen mit Frankreich. Für ihn war aber auch die „nukleare Teilhabe“ an den Atomwaffen der Amerikaner ein Schlüssel zur Verfügbarkeit über eigene Atomwaffen. Im Dezember 1957 stimmte die Bundesregierung den NATO-Plänen zur Stationierung von amerikanischen Atomraketen auf dem Boden der BRD zu.

Der Widerstand gegen die nukleare Rüstung formierte sich. Dennoch beschloss am 25. März 1958 der Bundestag die atomare Bewaffnung der Bundeswehr.

Die Pläne von gemeinsamer Produktion von Atomwaffen durch Frankreich und Bundesrepublik konnten nicht verwirklicht werden, denn Frankreich konnte diese Pläne wegen der Algerienkrise und einer Staatskrise nicht mehr verwirklichen. Der spätere französische Präsident de Gaulle wollte lieber ohne Deutschland atomare Waffen produzieren. Adenauer träumte seinen Plan weiter, bis die CDU-Regierung Kiesinger den durch die Regierung der UdSSR zustande gekommenen Atomwaffensperrvertrag 1967 unterschreiben musste.

Massenwiderstand

Nachdem Kriegsminister Strauß und Adenauer Anfang 1957 die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gefordert hatten, wurde der Protest gegen den „Griff nach der Bombe“ stärker. Den entscheidenden Impuls gab der „Göttinger Appell“ vom 12. April 1957. Ihm folgte eine von Radio Oslo ausgestrahlte Ansprache des Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer an die Weltöffentlichkeit (23. April 1957). Beide Aufrufe lösten eine Welle der Zustimmung aus. Diese Form der Politikeinmischung war neu. Im März 1958 gründete die SPD, die diesen Standpunkt auch im Bundestag vertrat, das Komitee „Kampf dem Atomtod“, das auch vom DGB unterstützt wurde. Auch die betrieblichen Streikaktionen der Arbeiterschaft gegen die Atombewaffnung waren neu. Nach der Bundestagsdebatte vom 23. bis 25. März und der Entscheidung der CDU-Mehrheit für die atomare Bewaffnung kam es zu einer Reihe von spontanen Streiks. In den meisten westdeutschen Großstädten kam es im Frühjahr 1958 zu Massenkundgebungen mit insgesamt etwa 1,5 Millionen Teilnehmern.

Der 1. Mai 1958 stand unter dem Zeichen des Kampfes gegen die Atomrüstung. Es war eine Bürgerbewegung, in der die Arbeiterklasse eine tragende Rolle spielte. Viele und führende Sozialdemokraten waren an der Bewegung „Kampf dem Atomtod“ beteiligt.

Leider distanzierten sich auf dem Höhepunkt des Widerstandes über 40 leitende Gewerkschaftsfunktionäre von der „Anti-Atom-Propaganda“ des DGB. In der SPD wurden Meinungsverschiedenheiten zum weiteren Verhalten in der Anti-Atomtod-Bewegung laut. Schließlich beschloss der DGB den Verzicht auf weitere Beteiligung an dieser Bewegung. Und auch die Initiatoren aus der SPD zogen sich, auch weil ihnen offenbar die Beteiligung bei den Bundestagswahlen 1957 nicht genutzt hatte, aus der Bewegung zurück.

Im Jahr 1960 beschloss die SPD auf dem Hannover-Parteitag eine prinzipielle Zustimmung zur atomaren Bewaffnung. Die „Aktionsgemeinschaft gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik“ führte den Widerstand weiter. In der Hauptsache in den bundesweiten Ostermärschen.

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"Der Griff nach der deutschen Atombombe", UZ vom 14. April 2017



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