Der Online-Händler Amazon ist der Krisengewinner der letzten Jahre. Der US-Konzern hat die Zeit der Pandemie genutzt, um Umsatz und Gewinn noch einmal massiv zu steigern. Die Beschäftigten profitieren nicht davon – auch deshalb, weil Amazon ihre gewerkschaftliche Vertretung gezielt behindert. UZ sprach über Arbeits- und Kampfbedingungen mit Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel.
UZ: Zuletzt streikten Amazon-Beschäftigte Anfang Mai gegen Tarifflucht, gegen Dumpinglöhne und für den Schutz ihrer Gesundheit. Der Online-Händler behauptet dagegen, sogar über Tarif zu zahlen und dass eine gewerkschaftliche Vertretung überflüssig sei. Wie lässt es sich erklären, dass ver.di und Amazon so unterschiedliche Einschätzungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen haben?
Orhan Akman: Amazon versucht bewusst und gezielt, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Wir sollten erst mal klären, worüber wir sprechen. Amazon behauptet, sich an den Tarifverträgen der Logistikbranche zu orientieren, wir fordern vom Konzern aber die Anerkennung der Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels. Das sind schon mal zwei unterschiedliche Tarifverträge.
Tatsächlich hat Amazon in den vergangenen Jahren die Löhne erhöht und auch die von ver.di in Tarifrunden ausgehandelten Einkommenssteigerungen mehr oder weniger weitergegeben. Das ist ein Erfolg unseres seit 2013 laufenden Arbeitskampfs. Wenn der Konzern aber behauptet, dass seine Stundenlöhne höher seien als in Tarifverträgen, greift er zu Rechentricks. Wichtiger ist aber, dass die Leistungen des Konzerns in anderen Bereichen – etwa Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Arbeitszeit, Zuschläge, Freistellungen zu besonderen Anlässen, Urlaub, Altersvorsorge usw. – deutlich unter den Tarifverträgen liegen.
Und einen „Tarifvertrag gute und gesunde Arbeit“ verweigert Amazon gleich ganz. Ein Vergleich aus Bad Hersfeld zeigt zudem eindeutig, dass Amazon-Konditionen weit unter dem Flächentarifvertrag des Einzel- und Versandhandels in Hessen liegen.
UZ: Wie sieht es mit dem Gesundheitsschutz aus? Amazon hat massiv vom Lockdown in den Innenstädten profitiert, fährt Rekordgewinne ein und expandiert. Wie schafft es der Konzern, die zusätzlichen Bestellungen zu bewältigen? Wo bekommt Amazon die zusätzlichen Arbeitskräfte her?
Orhan Akman: Die Extraprofite gehen auf die Knochen und die Gesundheit der Beschäftigten. Amazon stellt viele neue Beschäftigte ein, meist befristet, aber das Arbeitsumfeld ist darauf nicht ausgelegt. Das bedeutet, dass sich in den Gängen die Kolleginnen und Kollegen drängeln, Abstände können so nicht eingehalten werden. Und der Konzern versucht, die Arbeitszeiten immer weiter auszudehnen, am liebsten auch auf den Sonntag. Dagegen wehren wir uns. Erst im Januar hat das Bundesverwaltungsgericht auf Antrag von ver.di entschieden, dass die Lieferversprechen von Amazon kein Grund sind, am Sonntag arbeiten zu lassen. Deshalb stehen in den Versandzentren die Bänder am Wochenende für mindestens 24 Stunden still – und wir setzen uns dafür ein, dass es dabei bleibt.
UZ: Medien berichteten von Corona-Ausbrüchen bei Amazon. An einem Standort soll der Konzern sogar das Tragen von FFP2-Masken untersagt und stattdessen OP-Masken vorgeschrieben haben.
Orhan Akman: Seit Beginn der Pandemie hat es nach unseren Informationen in den verschiedenen Versandzentren mehrere hundert Infektionsfälle gegeben, darunter auch schwere und Todesfälle. Amazon erklärt zwar, alle gesetzlichen Vorgaben einzuhalten, das ist aber mehr als zu bezweifeln. Die Gesundheitsbehörden sind aufgefordert, hier genauer hinzusehen.
Das Verbot von FFP2-Masken im Versandzentrum Winsen/Luhe geht darauf zurück, dass Amazon den Kolleginnen und Kollegen die damit verbundenen zusätzlichen Pausen nicht gewähren will. Anderswo erlaubt Amazon den Beschäftigten zwar das Tragen eigener FFP2-Masken, die Pausen sollen aber von der geleisteten Arbeitszeit abgezogen werden. Letztlich lässt das Unternehmen die Beschäftigten alleine und entzieht sich seiner Verantwortung.
UZ: Stimmt es, dass Amazon Prämien an Beschäftigte zahlt, die sich nicht krankmelden?
Orhan Akman: Amazon hat im vergangenen Jahr zeitweilig die Stundenlöhne um 2 Euro erhöht und das mit Corona begründet. Ausgezahlt wurde dieser Zuschlag aber nur an diejenigen, die auch tatsächlich gearbeitet haben, also eine Anwesenheitsprämie. Wer hingegen krank oder im Urlaub war, bekam sie nicht. Das musste Beschäftigte dazu verleiten, auf der Arbeit zu erscheinen, auch wenn sie sich krank fühlten.
In der gleichen Weise belohnt Amazon auch Streikbrecher: Es werden bevorzugt Anwesenheitsprämien in Wochen ausgelobt, in denen ver.di zum Streik aufruft. Mit diesen Streikbruchprämien zeigt Amazon ein weiteres Mal, wie gewerkschaftsfeindlich das Unternehmen ist.
UZ: Amazon bestreitet ja, dass die Streiks, zu denen ver.di seit vielen Jahren immer wieder aufruft, Auswirkungen auf ihre Lieferversprechen hätten. Verfehlen die Streiks ihr Ziel?
Orhan Akman: Nein, das tun sie nicht. Zum einen ist die ständig wiederholte Behauptung, dass die Streiks keine Auswirkungen hätten, falsch. Wir haben das überprüfen können. Amazon weicht bei Streiks auch auf Nachbarländer wie Polen oder Tschechien aus, um die Lieferungen pünktlich zustellen zu können – das ist für den Konzern auch nicht kostenlos zu machen.
Solange Amazon sich der Tarifbindung verweigert, werden wir das Unternehmen mit Arbeitskampfmaßnahmen vor uns hertreiben. Die Streiks haben aber auch eine Wirkung weit über das Unternehmen hinaus – Amazon ist in der Öffentlichkeit inzwischen als knallharter Ausbeuter bekannt. Einen solchen Imageschaden kann sich kein Unternehmen ewig leisten, auch kein Gigant wie Amazon.
UZ: Hat ver.di deshalb zuletzt an einem polnischen Feiertag zum Streik bei Amazon in Deutschland aufgerufen, weil die Bestellungen dann nicht über Polen abgewickelt werden können?
Orhan Akman: Als ver.di sind wir international mit unseren Schwestergewerkschaften eng vernetzt und arbeiten zusammen. Auch mit unseren polnischen Kolleginnen und Kollegen haben wir seit Langem eine enge Zusammenarbeit. Es kam uns natürlich entgegen, dass Amazon am 3. Mai, dem polnischen Nationalfeiertag, nicht auf die Werke im Nachbarland ausweichen konnte.
Wir haben die Streiks am 3. und 4. Mai aber nicht nur aus diesem Grund ausgerufen. Zum einen kann man den 1. Mai kaum besser feiern als mit einem Streik und zum anderen haben Anfang Mai auch die Tarifverhandlungen im Einzel- und Versandhandel begonnen. Ein Grund mehr für uns, den Arbeitskampf auch bei Amazon zu verstärken.
UZ: Wie sieht die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften in anderen europäischen Ländern aus? Werden Streiks bei Amazon in Zukunft international koordiniert stattfinden müssen?
Orhan Akman: In den vergangenen Jahren hat sich eine kontinuierliche internationale Zusammenarbeit entwickelt, unter anderem über die internationale Dienstleistungsgewerkschaft UNI Global Union. Wir stehen in engem Austausch mit den bei Amazon aktiven Gewerkschaften zum Beispiel in den USA, Großbritannien, Italien, Spanien und Frankreich. Auch mit den Gewerkschaften in den Ländern, wo Amazon sukzessive nun aufschlägt, haben wir enge Kontakte, beispielsweise mit Schweden oder Brasilien. Streiks in einzelnen Ländern werden regelmäßig international unterstützt.
Wir setzen uns dafür ein, diese Zusammenarbeit zu intensivieren, gerne auch mit grenzübergreifenden Streiks. Das wird aber durch die oftmals arbeiterfeindliche Gesetzgebung in den verschiedenen Ländern erschwert. Vergessen wir nicht, dass sogar in Deutschland das Streikrecht nur sehr eingeschränkt gewährt wird, nämlich als Arbeitskampfmaßnahmen im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen.