Klaus-Rüdiger Mais „Leonardos Geheimnis“ sichtet die Fakten

Der Gegenwart verpflichtet – die Zukunft im Blick

Von Rüdiger Bernhardt

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Klaus-Rüdiger Mai

Leonardos Geheimnis

Die Biographie eines Universalgenies

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019

411 S., 25,- Euro

Zu Leonardo da Vincis 500. Todestag sind mehrere Bücher erschienen. Das hier vorgestellte erscheint unter den bevorzugt rezensierten seltener; das liegt an seiner Kompetenz: Es geht nicht auf einzelne, teils spektakuläre Züge des Genies ein – Leonardo da Vinci und die Frauen (Kia Vahland) orientiert sich einseitig –, oder verliert sich nicht in gut ansehbaren, aber wenig Neues bietenden Faktensammlungen (Boris von Brauchitsch) –, sondern lässt sich von einer historischen Gesamtheit verführen, in der Leonardo das Ergebnis seiner Zeit ebenso ist wie ein Wegweiser darüber hinaus. Selbst Leonardos vielgerühmte und diskutierte neue Techniken – seine Sfumato-Technik, das Gleiten zwischen Hell und Dunkel – sind ein Thema unter vielen.

Bei Leonardo da Vinci scheint vieles rätselhaft zu sein, vieles wurde später rätselhaft gemacht. Ob es Gestalten seiner Bilder wie die Mona Lisa sind oder die geheimnisvollen Botschaften in Bildern und Skizzen oder Biografisches, wo man einfach Unbekanntes freizügig ausgestaltete. Auf Spekulationen und Verschwörungstheorien verzichtete Klaus-Rüdiger Mai, sah aber durchaus verschiedene Möglichkeiten: Er sicherte Fakten und machte sie zur Grundlage von Möglichkeiten. Dass er dennoch vieles Geheimnisvolle in Leben und Schaffen Leonardos fand, ergab sich aus dessen Umgang mit der Wirklichkeit und seinem wissenschaftlich-technischen sowie künstlerischen Schaffen. Um es zum Kunstwerk oder zu einem technischen Plan werden zu lassen, wendete er das Werkstattschaffen der damaligen Zeit als gültige Methode an, nicht die sorgfältige planmäßige Ausbildung. Für den heutigen Betrachter hat das viel Unsystematisches und Zufälliges, manche bezeichnen das auch als „Mythos vom schlampigen Genie“ (Freie Presse vom 2. Mai 2019), ist aber Ausdruck des universellen Anspruchs. Den stellt Klaus-Rüdiger Mai in den Mittelpunkt seiner Biografie, die sich zu einer sorgfältigen Zeitbeschreibung weitet. Das begann bereits mit der Lehre im Werkstattbetrieb, die sich an den Aufträgen orientierte. Die Lehrlinge und so auch Leonardo wurden „nicht systematisch“ ausgebildet, „sondern eher sporadisch immer dann, wenn eine Arbeit anfiel“ (S. 72). Das brachte die Beschäftigung von der Feinschmiedekunst bis zur Architektur, von der Bauplanung bis zu Geschenkanfertigungen, vom Kunstgewerbe, wie man heute sagen würde, bis zu Bildhauerei und Malerei mit sich.

Der Autor berücksichtigte einen produktiven Grundsatz: Um Leonardo zu verstehen, muss man seine Zeit kennen. Wer also seiner Biografie und seinem Wirken folgen will, muss sich erst eine entsprechende Grundlage der Zeit schaffen, zumal vieles dort so grundverschieden von der heutigen Zeit ist. Klaus-Rüdiger Mai nimmt die Leser in diese Zeit mit, ein Vorzug des Buches, das sich dem Universalgenie widmet.

Geboren wurde Leonardo als Lionardo – die alte toskanische Form für Leonardo – in Vinci, einem Städtchen zwischen Florenz und Pisa. Die Taufe in der Pfarrkirche Santa Croce wurde zum gesellschaftlichen Ereignis, womit die uneheliche Geburt überdeckt werden sollte. Doch blieb ihm durch diese Geburt der Besuch der Lateinschule verwehrt, was eine andere, sehr wirkungsvolle Bildung auslöste: In seiner Heimatstadt hatte Leonardo die Natur zum ersten Partner gehabt, als er nach Florenz ging, lernte er die Sicht des Künstlers kennen, wobei zwischen diesem und einem Wissenschaftler zu der Zeit keine wesentlichen Unterschiede bestanden.

Leonardo-Statue in Florenz

Leonardo-Statue in Florenz

( Dennis Jarvis / Lizenz: CC BY-SA 2.0)

Eine besondere Eigenschaft Leonardos macht ihn – nach Mai – als Persönlichkeit interessant: Zu zahlreichen technischen und Wissens-Gebieten stellte er detailreiche Untersuchungen an, die er in Zeichnungen niederlegte. Dank seiner künstlerischen Fähigkeiten wurden auch diese Materialien Kunstwerke. Das ist wichtig, weil sich Leonardos Verdienst oft nur an seinem Bild der Mona Lisa festmacht, wodurch man ihn geschickt von den sozial-gesellschaftlichen Beziehungen und seiner Bedeutung dafür trennen konnte. Eines der vielen Verdienste dieses Buches über ihn ist, dass der Autor diesen Studien gründliche Aufmerksamkeit schenkte und sie gleichbedeutend mit der Malerei, ja sogar als eine Voraussetzung dafür behandelte.

Leonardo als Maler brachte, so Mai, immer sich in die Bilder ein, nicht als Porträt, aber in Haltungen und Beispielen. So sieht Mai in dem berühmten Bild der Mona Lisa auch ein Abbild der Leidenschaften Leonardos, des homosexuellen Mannes. Auch anderes, was Leonardo prägte, – er war Linkshänder und schrieb in Spiegelschrift, er war Vegetarier, liebte Pferde und das Reiten –, nahm sich Mai vor und erklärte dessen Auswirkungen auf das Gesamtwerk. So entstand einerseits das Bild eines den inneren Zusammenhängen von Natur und Kunst nachjagenden Menschen, der die Vergangenheit, insbesondere die Antike, genau kannte, sich der Gegenwart verantwortlich fühlte wie der Zukunft, „die aus seiner Perspektive gesehen die Ewigkeit schlechthin bedeutete“ (S. 23). Andererseits hat dieses Streben Kunstwerke hervorgebracht, die auch 500 Jahre nach seinem Tod als Kunst begriffen, anerkannt und gefeiert werden und die begründet hoffen lassen, dass die Inflation des Begriffes Kunst, wie er in der heutigen Konsumgesellschaft an der Tagesordnung ist, nicht verhindert, dass auch dem, was Kunst ist, in 500 Jahren gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, anderes aber vergessen wird. Parallel gelingt es Mai, den „Modernitätsschub“, den Europa in der Renaissance erlebte, historisch zu begründen und Europa selbst in dieser Zeit „zum ersten Male seit der Antike als politischen Begriff“ (S. 33) anzutreffen.

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"Der Gegenwart verpflichtet – die Zukunft im Blick", UZ vom 28. Juni 2019



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