Es muss ein schöner Frühling nach einem kalten Winter gewesen sein. Es gibt Berichte von alliierten Soldaten, die erstaunt waren über das blühende Land, das sie betraten. Die Rote Armee hatte im Januar 1945 das KZ Auschwitz-Birkenau befreit und die Oder erreicht. Mit gigantischen Anstrengungen wurden rund zweieinhalb Millionen Soldaten mit über 6.000 Panzern und über 7.500 Flugzeugen zusammengezogen. Eine letzte große Offensive sollte den endgültigen Sieg über den Faschismus bringen. Die Schlacht um die Seelower Höhen vom 16. bis 19. April war der Auftakt für den Marsch nach Berlin. Eine Woche später war die deutsche Hauptstadt komplett eingeschlossen und zum ersten Mal in diesem Krieg trafen sich bei Torgau an der Elbe sowjetische und US-amerikanische Soldaten. Die Hoffnung von Millionen Menschen weltweit auf ein Ende des über ein Jahrzehnt herrschenden faschistischen Spuks war erfüllt.
Der 75. Jahrestag der Befreiung der Völker Europas vom deutschen Faschismus war für die Berliner Fotografin Gabriele Senft Anlass, in besonderem Maße zu erinnern – an die Verbrechen der Faschisten und die Taten der Befreier. „Ich wollte, beginnend im Januar, den Weg der Roten Armee von Kienitz an der Oder 75 Jahre danach bis nach Berlin verfolgen. Denn wir leben in erschreckenden Zeiten, in denen Nationalismus und Rassismus nicht nur in Deutschland wieder gesellschaftsfähig werden, auch dadurch, dass Geschichtsdaten vergessen gemacht oder verfälscht werden“, schreibt sie. „Das merkwürdige Jahr 2020 erforderte ein Umdenken. Aber so ergab sich zugleich die Chance, das Projekt zu erweitern und durch mehr Zeit tiefer in dieses Thema einzudringen. Ich konnte mich über das ursprünglich Vorgenommene hinaus an authentischen Orten in Gedanken den Befreiern nähern, dem Erleben und der Motivation der Soldaten.“ Es wurde nicht nur eine Spurensuche von der Oder bis Berlin, sondern eine Reise quer durchs Land – von Thüringen bis zur Ostsee.
Das Projekt wurde für Gabriele Senft auch zu einer Forschungs- und Entdeckungsreise in vergangen geglaubte und tatsächlich vergangene Zeiten. Für sie ist nicht zu übersehen, dass der Geist des Faschismus trotz aller Anstrengungen auch in manchen Köpfen in der DDR überwintert hat. Ebenso ist „nicht zu übersehen ist, wie er in der BRD gehegt wurde und nun wieder in ganz Deutschland seine blutigen Hände voll Stolz reckt. Willfährige Schergen für die Eroberungspläne des Kapitals“ – auch von denen ist mit ihren Bildern die Rede.
Da ihr als „Zeitreise nur blieb, in der Oderlandschaft zur Jahreszeit der Kämpfe zu forschen, Ehrenfriedhöfe und besondere Denkmäler für die Gefallenen aufzusuchen, Spuren der Kämpfe in der Landschaft und in den Orten zu dokumentieren“, gab sie einigen Zeitzeugen „Gesicht und Wort, ihre Botschaft weiter zu vermitteln“.
Herausgekommen ist ein ganz besonderes Buch. Ein Bildband und ein Lesebuch. Aber auch ein Buch, das den Leser zum eigenen Entdecken anregt, mithin also auch ein Reisebuch. Zum Titel „Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten“ erinnerte sich Gabriele Senft an das gleichnamige Lied aus dem Jahr 1938, das in vielen Ländern in verschiedenen Variationen populär war und das zum Repertoire auch der Singegruppen in der DDR gehörte. Nicht zuletzt ist es ein sehr schönes Buch geworden.Wiljo Heinen, der Verleger, und die Fotografin haben da etwas ganz Besonderes hinbekommen, das über das eigentliche Erinnerungsjahr hinaus seine Berechtigung hat.
Gabriele Senft hat ihr Buch den Sowjetsoldaten gewidmet. „Es war die Sowjetunion, die wirklich mit dem Faschismus aufräumen wollte und eine neue Zeit ohne Ausbeutung ermöglichte. Doch bei der Niederschlagung des deutschen Faschismus darf auch der Einsatz der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition nicht vergessen werden.“ Darum war es ihr wichtig, das Mahnmal „Befreiung“ des DDR-Bildhauers Jürgen Raue vorzustellen. Ein Denkmal, das die Soldaten der alliierten Armeen ehrt.
Gabriele Senft Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten. Der lang ersehnte Frühling. Verlag Arbeiterlogik, Berlin 2020, 198 Seiten, 217 Abb., 28,50 Euro www.arbeiterlogik.de