Mit dem Thema „Abolitionismus“, der grundsätzlichen Kritik am strafenden Staat, befasst sich das neueste Heft der „Marxistischen Blätter“. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden Strafsystem, Gefängnisse und Polizei in elf Schwerpunktbeiträgen unter die Lupe genommen. Der breite Themenspielraum umfasst die Utopie einer „Gesellschaft ohne Gefängnisse“, die Armutsgefahr von Gefangenen, aber auch Momente von Freiheit hinter Gittern beim Gefangenentheater „aufBruch“. Damit setzt das Heft den zaghaften Entkriminalisierungsvorschlägen der Bundesregierung ein grundsätzliches Nachdenken über das Strafen entgegen. Grundsätzliches, das heißt Marxismus – nicht nur für Einsteiger – zu vermitteln beziehungsweise aufzufrischen, ist das Ziel einer neuen Rubrik der Marxistischen Blätter, aus der wir diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung leicht gekürzt nachdrucken. uzlinks.de/AktuelleMB
Als George Orwell seine drei Losungen „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“ niederschrieb, tat er dies im Rahmen einer Kritik eines fiktiven sozialistischen Zukunftsstaates. Wenn heute Hochrüstung als Friedenswerk gelobt, Multimilliardäre den Armen als Wohltäter verkauft und Medienverbote als Kampf gegen Fake-News gepriesen werden, dann muss man nach Sozialismus lange suchen. Bürgerliche Propaganda beherrscht Parteiendiskurs und Massenmedien, schon die bloße Äußerung abweichender Vorstellungen kann empfindliche Sanktionen nach sich ziehen. So weit, so wenig überraschend. Wieso aber überzeugt reaktionäres Gedankengut auch Menschen, die alles Interesse daran haben, es nicht zu glauben?
Das Problem an sich ist nicht neu. Bei den linken Junghegelianern, in deren Reihen Marx und Engels ihre frühen philosophischen Gehversuche machten, erschien es in Form der Frage, warum so viele Menschen längst widerlegten religiösen Dogmen anhingen. Waren daran allein die Machenschaften christlicher Ideologen schuld, ein „Priestertrug“? Marx überzeugte diese Antwort nicht. Er leugnete weder Existenz noch Wirkmächtigkeit klerikaler Propaganda, fragte aber nach den gesellschaftlichen Grundlagen massenhafter Verbreitung falscher Vorstellungen. In seiner Antwort ging er weit über die Thematik bloßer Christentumskritik hinaus.
Die Macht der Dinge
In einem der meistdiskutierten seiner Ansätze zur Erklärung falschen Bewusstseins greift Marx auf einen Begriff aus der Religionsgeschichte zurück. Portugiesische Missionare hatten die religiöse Praxis westafrikanischer Völker als „Fetischismus“ bezeichnet; abgeleitet ist dieser Begriff von „feitiço“, „Zauberwerk“, welches wiederum auf das lateinische Wort für „machen“ zurückgeht. Gemeint war der Umstand, dass Anhänger entsprechender Religionen Kultgegenstände anfertigten, um sie dann für ihre übernatürlichen Fähigkeiten zu verehren. Eine Verkehrung: Dem toten Werk menschlicher Hände wurde magische Macht über lebende Menschen zugesprochen.
Was den Missionaren als Aberglaube primitiver Stämme erschien, ist so selten nicht. Eine ähnliche Verkehrung findet in unserer Gesellschaft ebenfalls statt, in weit größerem Maßstab als im vorchristlichen Afrika. Auch wir werden, so scheint es jedenfalls, von den Produkten unserer eigenen Hände beherrscht. Aussprüche wie „Hier wirkt die Macht des Geldes“ oder „Das wachsende Güterangebot bricht ihrer Firma das Genick“ zeugen davon. Unser Schicksal erscheint als abhängig von toten Dingen, ihrer Bewegung, ihren Eigenschaften, ihrem Zuviel oder Zuwenig. Entsprechend wird diesen Dingen Macht über Menschen zugeschrieben; es gerät aus dem Blick, dass sich hinter dieser Macht menschliches Handeln verbirgt.
Ware, Geld und Kapital
(Waren-)Fetischismus ist, mit einem Begriff aus Georg Lukács’ einflussreichem Aufsatz „Geschichte und Klassenbewusstsein“ gesagt, die „Verdinglichung“ menschlicher Beziehungen. Soziale Verhältnisse erscheinen als Eigenschaften von Gegenständen. Beispielweise wird der Preis eines Brotes als Eigenschaft des Brotes wahrgenommen, nicht als Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse von Bäckerin und Kundschaft. Ganz so, als würde sich das Backwerk für die Austauschverhältnisse in Bäckereien interessieren, nicht Verkäufer und Abnehmer.
Wie ist dergleichen materialistisch zu erklären? In der Warenproduktion produzieren Menschen Dinge für andere, ihnen fremde Menschen. Diese Dinge müssen für irgendjemanden nützlich sein, einen Gebrauchswert haben. Hätten sie keinen, niemand würde sie erwerben, ihr Produzent hätte umsonst gearbeitet. Letztlich interessiert er sich aber nicht für den Gebrauchswert. Was ihn interessieren muss, ist das, was er im Austausch für seine Ware erhält – den Tauschwert beziehungsweise, in modernen Gesellschaften, das Geld.
Alle warenproduzierende Arbeit ist Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhanges, eines Zusammenhanges von Menschen. Produzenten produzieren für die Gesellschaft, sie produzieren mit von der Gesellschaft erworbenen Mitteln, kaufen und verkaufen auf Märkten, deren Angebot, deren Nachfrage sowie deren Preisstruktur gesellschaftlich bestimmt sind. Und doch konsumieren und produzieren sie privat, im eigenen Geschäft, nach eigenem Gutdünken, für ihre eigenen Taschen und für ihre eigenen Mägen.
Die gesellschaftliche Dimension ihres Tuns ist immer anwesend, aber sie erscheint den Warenproduzenten nicht als solche. Tauscht Tischlerin Hinz ihr Produkt gegen die Produkte von Drucker Kunz, so nimmt sie wahr, dass sie für einen Tisch eine bestimmte Menge Bücher erhält. Die soziale Struktur (Hinz und Kunz tauschen die Produkte ihrer Arbeiten) verschwindet hinter einem Verhältnis von Dingen: Ein Tisch entspricht drei Bänden „Kapital“. Es sieht so aus, als wäre es eine Eigenschaft des Tisches, drei Bücher Wert zu sein. In Marx‘ Worten: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“
Der Warenfetischismus ist eine Grundform der Verdinglichung, aus der höhere Formen des Fetischismus folgen. Im Geldfetischismus erscheint die Fähigkeit, Dinge anzueignen, als Eigenschaft des Geldes beziehungsweise der Geldwaren Silber und Gold. Hieraus erwuchs eine Geld- und Goldgier, die mit dem Wort „ungeheuerlich“ viel zu milde beschrieben ist. Die Sklaven in römischen Silber- und Goldminen hatten eine Lebenserwartung von Monaten. Christoph Kolumbus verkündete: „Gold ist eine Kostbarkeit. Jedem, der es besitzt, erfüllt es alle Wünsche dieser Welt und verhilft den Seelen ins Paradies“ und setzte den Auftakt zur beinahe vollständigen Ausrottung der Bevölkerung eines ganzen Kontinents. Das Zahngold, das den Opfern deutscher Konzentrationslager aus den Mündern gebrochen wurde, diente freilich profaneren Zwecken.
Die heutige bürgerliche Wirtschaftswissenschaft blickt naserümpfend auf den Glauben an die Allmacht des Goldes herab, doch ihr zentrales Dogma, die Lehre von der Wertschöpfung durch die drei Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital, zählt nicht minder zu den fetischistischen Verkehrungen. Wenn VWL-Standardlehrbücher behaupten, „Grundsätzlich sind Kapitalgüter Maschinen aller Art: Traktoren, Gebäude, Computer und ähnliches.“, so sprechen sie toten Dingen die Fähigkeit zur Reichtumsvermehrung zu. Im „Kapitalfetisch“ erscheint der Profit nicht als Resultat der Ausbeutung von Menschen, sondern als Folge der sachlichen Eigenschaften derartig „produktiver“ Güter. Im zinstragenden Kapital schließlich, das Geld in mehr Geld verwandelt, „erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“, hier scheint jede Vermittlung zur Arbeit als Quelle des Reichtums verschwunden. All diese Formen fetischistischer Verkehrungen bieten Anknüpfungspunkte für diverse Formen von Apologetik, vom „arbeitenden Geld“ bis hin zur Rechtfertigung ungeheurer Vermögenskonzentration in immer weniger Händen.
Folgen des Fetischismus
Statt hinter den krisenhaften, mitunter katastrophalen Folgen unserer Wirtschaftsweise die nach kapitalistischen Gesetzen erfolgende Verausgabung menschlicher Arbeitskraft innerhalb des Reproduktionsprozesses zu sehen, fühlen sich die Warenbesitzer im Guten wie im Schlechten der Bewegung von Sachen ausgeliefert. Dieser Irrglaube ist nicht einfach ihrer Dummheit geschuldet, er ist in der Grundstruktur unserer Gesellschaft angelegt. Die Formen solch verkehrten Bewusstseins sind vielfältig, ihre Folgen durchziehen verschiedenste Bereiche des Denkens. Bürgerinnen und Bürger wollen als Privatfrauen beziehungsweise -männer möglichst wenig mit der Gesellschaft zu tun haben. Liberale – und nicht nur liberale – Ideologien basieren auf der Illusion eines von der Gesellschaft isolierten „Ich“. In Sätzen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Mir geht nichts über mich“ oder auch in Margaret Thatchers berühmtem Ausspruch „Who is society? There is no such thing!“ wird so getan, als hinge das eigene Glück nur von jedem einzelnen ab, nicht von den vielfach verflochtenen sozialen Aktivitäten von Millionen von Menschen. Der Industriekapitän, der Immobilienhai, die Aktienspekulantin haben, so glauben sie, nichts getan, als geschickt mit Waren zu handeln, deren Eigenschaften ausgenutzt. Auf der andern Seite haben die gesellschaftlichen Verlierer einfach Pech, dass ihre Waren zu niedrige Preise erzielen. Niemand ist schuld, wenn „der Markt“ meine Ware, beispielsweise meine Arbeitskraft, als mangelhaft bewertet – außer möglicherweise ich selbst.
Die Privilegierten in solchen Verhältnissen werden als Helden verehrt, für ihren Wohlstand bewundert. Denen in den sozialen Kellergeschossen fehlt es nicht nur an materiellen Mitteln, sie müssen damit rechnen, aufgrund ihrer Armut noch verachtet zu werden.
Vorsicht Falle!
Bei Marx ist die Kritik des Fetischismus Teil eines in der Tradition der Aufklärung stehenden Programms. Indem er erklärt, was es mit fetischistischen Wahrnehmungen auf sich hat und wo ihre Ursachen liegen, macht er sie durchschaubar, zeigt Möglichkeiten auf, ihnen zu begegnen. Im sogenannten „westlichen Marxismus“ wurden die entsprechenden Marx-Passagen hingegen zunehmend mit gegenteiliger Absicht gelesen. Der Fetischismus erstarrte hier zum Schicksal, dem die Masse der Bevölkerung hilflos ausgeliefert sei. Aus der Tendenz zur Verdinglichung gesellschaftlicher Strukturen wurde ein Drang zu auf Vernichtung zielenden, letztlich antisemitischen Ideologien abgeleitet.
Derartige Vorstellungen finden sich bereits in der „Frankfurter Schule“, die „Antideutschen“ trieben sie auf die Spitze. Da der Massenmensch, gleichgültig welcher Klassenherkunft, in fetischistischen Denkmustern befangen bleibe, sei er gefährlich, müsse in Zaum gehalten werden. Wo Menschen für ihre Interessen eintreten, sei nach Anzeichen fetischistischer, potenziell antisemitischer Ideologeme zu fahnden, seien entsprechende Bewegungen zu denunzieren. Die Marxsche Theorie wird auf diese Weise zur Unkenntlichkeit verdreht, demokratisch intendierte Aufklärung verwandelt sich in eine klassisch-reaktionäre Elitentheorie. Den „kritischen Marxlesern“ fällt die Rolle zu, vor den auf Vernichtung zielenden Impulsen der Massen zu warnen. Da eine Revolution aufgrund fetischistisch verkehrten Bewusstseins undenkbar sei, bleibe als Aufgabe der „Kritiker“ die Verteidigung des Status-quo – gerne auch mit Hilfe der Staatsmacht.
Mit Marx und Engels ist dergleichen nicht zu machen. Wenn sie den kritischen Kritikern ihrer Zeit vorhielten, sie seien „trotz ihrer angeblich ‚welterschütternden‘ Phrasen die größten Konservativen“, so lässt sich das eins zu eins auf die kritischen Kritiker von heute übertragen. Der Fetischismus ist in Marx’ Werk keine alles Denken determinierende dunkle Schicksalsmacht, er ist ein Hindernis auf dem Weg zu wissenschaftlich informierter Welterkenntnis. Er ist in den Strukturen warenproduzierender Gesellschaften angelegt, ist aber erklärbar und prinzipiell von jedermann zu durchschauen. Selbst dort, wo er vorliegt, folgen nicht unmittelbar Vernichtungswünsche, geschweige denn eliminatorischer Antisemitismus. Der Weg von der falschen Vorstellung, unser Schicksal werde durch Dinge bestimmt, bis hin zu nationalsozialistischem Ausrottungswahn, ist weit. Er bedarf einer Reihe ideologischer und politischer Zwischenschritte, die selbst oft wenig mit Fetischismus zu tun haben. Er bedarf, sollen Menschenmassen entsprechend indoktriniert werden, machtvoller ideologischer Apparate. Er bedarf derjenigen, die von der Propagierung rechtsextremer Weltanschauungen profitieren, politisch wie materiell.
Warum sollte die Erkenntnis der hinter dem Fetischismus liegenden Strukturen unmöglich sein? Warum sollten derartige Strukturen, sind sie einmal erkannt, nicht beseitigt werden können? Ob diejenigen, die ein Interesse daran haben, dies auch tun, ist keine Frage des Schicksals. Es ist eine Frage des Ausgangs (nicht nur) ideologischer Klassenkämpfe.