Am 17. Dezember wird es in Chile ein Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf geben, nachdem der erste Versuch 2022 gescheitert ist. Im aktuellen Entwurfstext ist unter anderem kein Streikrecht, eine Weiterführung des privaten Bildungssystems, eine Verschärfung des Abtreibungsrechts oder die Freilassung von Diktaturverbrechern vorgesehen, so dass es sich letztlich um eine Neuauflage der Diktaturverfassung von 1980 handeln würde. Nach dem Ende der Arbeit des Verfassungsrates am 30. Oktober haben Vertreter der linken Regierungskoalition ihr Nein zum Entwurf bekanntgegeben, während Regierung und Präsident offiziell keine Haltung äußern. Eine erste Umfrage zeigt gut 55 Prozent Ablehnung. UZ sprach mit Carlos Margotta, dem Präsidenten der Chilenischen Menschenrechtskommission (CchDDHH).
UZ: Worin besteht die Arbeit ihrer Kommission? Ist sie staatlich und ausgestattet mit entsprechenden Ressourcen?
Carlos Margotta: Nein, sie ist eine Institution der Zivilgesellschaft, unabhängig vom Staat, und sie bekommt daher keine Zuwendungen. Wir haben sie 1978 gegründet, mitten in der Vernichtungspolitik der zivil-militärischen Diktatur Augusto Pinochets. Ihre Hauptfunktion war, die Opfer der Diktatur zu verteidigen und eine Demokratie anzustreben, in der die Grundlage der Respekt und die Garantie der Menschenrechte sein sollte, wie sie auch in den verschiedenen internationalen Verträgen festgelegt sind.
UZ: Im Oktober 2019 gab es massive Polizeiattacken gegen Demonstrierende, mit Toten, vielen Verletzten und Festgenommenen. Sie haben den damaligen Präsidenten Piñera vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagt. Wie steht es um den Fall?
Carlos Margotta: Wir senden weiterhin Material an den IStGH, damit dort ein formelles Verfahren gegen ihn und andere Täter von Militär und Polizei eröffnet wird. Diese schweren Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. In Chile haben die Gerichte nur 27 staatliche Akteure verurteilt, meist geringfügig und ohne Freiheitsentzug, während die offizielle Zahl bei 8.788 geschädigten Personen innerhalb der Niederschlagung der damaligen Proteste liegt. Unsere Organisation hat 63 Strafanzeigen gestellt gegen die Verantwortlichen von Verbrechen, die vielfach zu Augenverletzungen durch Schüsse seitens der so genannten Carabineros, einer uniformierten Polizei, geführt haben. Darüber hinaus hat die Kommission die Verteidigung von 26 Menschen übernommen, die willkürlich verhaftet worden waren und durch unsere Intervention bis zum Prozess vorläufig freikamen.
UZ: Dieses Jahr erinnern wir in aller Welt an den 50. Jahrestag des Militärputschs von Pinochet. Sie haben zuletzt diverse Länder bereist, auch Deutschland. Wie bewerten Sie die Arbeit der aktuellen chilenischen Regierung, die von einem Linksbündnis gestellt wird, hinsichtlich der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und der in die Zehntausende gehenden Fällen von Morden und Verschwindenlassen?
Carlos Margotta: Nach 33 Jahren des Übergangs zur Demokratie vernachlässigt der chilenische Staat weiterhin schwerwiegend seine internationalen Verpflichtungen. Was die Gerechtigkeit angeht, so gibt es nach wie vor ein hohes Maß an Straflosigkeit. Nach offiziellen Angaben gab es während der Diktatur 40.786 Menschenrechtsverletzungen, darunter Morde, Verschwindenlassen und Folter. Nur in 262 Fällen gab es eine Bestrafung, nicht einmal immer mit Freiheitsentzug. Hinsichtlich der Wahrheitsfindung gibt es immer noch 1.162 Chileninnen und Chilenen, die als verschwunden gelten. Die Wiedergutmachung ist nicht auf der Höhe der internationalen Standards. Und was die Garantie der Nichtwiederholbarkeit angeht, hat es weder eine Neustrukturierung der Streitkräfte oder der Carabineros noch eine tiefgehende Reform der Justiz gegeben, und weiterhin wird in Schulen und Universitäten keine Menschenrechtserziehung angewandt.
UZ: Im Dezember wird über einen zweiten Verfassungsentwurf abgestimmt, mit dessen Annahme die Pinochet-Verfassung von 1980 ersetzt würde, nachdem am 4. September 2022 ein erster, fortschrittlicher Entwurf von 62 Prozent der Abstimmenden abgelehnt wurde. Es folgte ein neuer, mehrheitlich rechts besetzter Verfassungsrat aus nur 24 Personen. Man konnte inzwischen erfahren, dass deren neuer Entwurf sich wenig von der Diktaturverfassung absetzt … Woher kommt die rechte Mehrheit im Verfassungskonvent? Ist jetzt eine Enthaltung besser als ein Nein?
Carlos Margotta: Dieser neuerliche Verfassungsprozess ist illegitim, denn er verletzt Artikel 1, in dem das Recht auf freie Selbstbestimmung des Volkes festgeschrieben ist, und Artikel 25, der das Recht auf bürgerliche Teilnahme und die Übernahme von öffentlichen Ämtern garantiert. Beide Rechte sind im Internationalen Pakt bürgerlicher und politischer Rechte fundiert, was der Grund ist, dass unsere Kommission den chilenischen Staat vor dem Hohen UN-Kommissariat für Menschenrechte angezeigt hat. Das für den zweiten Versuch vorgenommene Modell verhinderte, dass die Chileninnen und Chilenen noch einmal souverän an der demokratischen Ausarbeitung des Entwurfs mitarbeiten konnten. Stattdessen ist es nun eine Gruppe von Experten, die vom Parlament ausgesucht wurde, um das Projekt zu erarbeiten (nicht wie bei der ersten Verfassungsversammlung, die noch vom Volk gewählt wurde, Anmerkung der Redaktion), das dann von einem Verfassungsrat gebilligt wird. Außerdem hat die extreme Rechte eine den Umständen geschuldete Mehrheit in diesem Verfassungsrat, die sie einer Angstkampagne in Zusammenarbeit mit den großen Massenmedien verdankt. Daher behält der Text das wirtschaftliche und soziale Modell der Diktatur bei, das 1980 zur Norm wurde.
Definitiv ist der Textentwurf ein schwerer zivilisatorischer Rückschritt, der die Menschenrechte untergräbt und die wenigen Fortschritte eliminiert, die in der Transition zur Demokratie erreicht wurden. Zudem regelt er in keiner Hinsicht die gesellschaftlichen Forderungen, die in den von der Piñera-Regierung brutal niedergeschlagenen Demonstrationen der vergangenen Jahre erhoben wurden. Sebastián Piñera ist ein Multimillionär, der die Interessen der Unternehmerschaft zu Lasten der Interessen der großen Mehrheiten verteidigt hat.
Daraus folgt konsequenterweise, sich weder zu enthalten noch den Stimmzettel ungültig zu machen, sondern mit „Nein“ gegen diesen Textentwurf zu stimmen; auch weil er im Falle der Annahme ein schweres Hindernis für den sozialen Frieden darstellen würde. Man wird auf einen anderen Moment warten müssen, um einen neuen Anlauf für eine Verfassung zu machen, der dann legitim und demokratisch verlaufen muss und ermöglicht, definitiv die von der Diktatur geerbte Verfassungsordnung zu überwinden.
UZ: Wie beurteilen Sie das Verhalten von Präsident Gabriel Boric in diesem Zusammenhang?
Carlos Margotta: Er macht Fehler und ist nicht konsequent, denn bei seiner kürzlichen Europareise sagte er, dass seine Regierung die Menschenrechte respektiere, aber er hat den Verfassungsprozess vorangetrieben, egal ob er legitimiert oder demokratisch zustande gekommen wäre. Jetzt, wo der Entwurfstext und sein menschenrechtsverletzender Inhalt bekannt wurde, schweigt er bis heute dazu.