Vor 300 Jahren wurde Adam Smith geboren

Der doppelte Smith

Holger Wendt

Auf Adam Smith schwören alle – vom liberalen Volkswirtschaftsprofessor über die marktgläubige FDP-Politikerin bis hin zum schwerreichen Industriekapitän. Selbst Marxistinnen und Marxisten, angefangen Marx, Engels und Lenin, rechnen ihn zu ihrer Traditionslinie. Bei so viel parteiübergreifender Einigkeit drängt sich der Verdacht auf, irgendwer könnte sich irren.

Ein Aufklärer

Smith wurde am 5. Juni 1723 im schottischen Kirkcaldy geboren, seine Mutter war die Witwe eines Juristen und ranghohen Beamten. Mit 14 Jahren verließ er die kleinstädtische Umgebung und ging zum Studium nach Glasgow, dem Zentrum der schottischen Aufklärung. Hier hörte er Vorlesungen seines verehrten Lehrers Francis Hutcheson, ebenso begann eine lebenslange Verbundenheit zum atheistischen Philosophen David Hume. In Oxford, wo er ab 1740 seine Ausbildung fortsetzte, erlebte er das Gegenteil. Die Universität war damals nicht weniger berühmt als heute. Die reaktionären Dozenten schienen sich jedoch mit ihren reichen Studenten einig gewesen zu sein, keines fortschrittlichen Gedankens Blässe zu tolerieren. Immerhin, die hervorragend ausgestatteten Bibliotheken verhalfen Smith zu gründlichen Kenntnissen sowohl klassisch-antiker als auch neuerer englischer Literatur.

Nach Zwischenspielen in Kirkcaldy und Edinburgh übernahm Smith 1751 in Glasgow zunächst den Lehrstuhl für Logik und 1752 denjenigen für Moralphilosophie. Man darf sich von heutigen Begriffen nicht täuschen lassen – der Gegenstand dieses Faches war im 18. Jahrhundert erheblich breiter und umfasste nicht nur die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen, sondern das gesamte Gebiet der Gesellschaftswissenschaften. Insofern war der junge Professor in seinem Element.

Im Jahr 1759 veröffentlichte Smith die „Theorie der ethischen Gefühle“. Diese Schrift, heute nur noch Spezialisten bekannt, verbreitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit und machte ihren Autor berühmt. Dies verschaffte ihm die Gelegenheit, den jungen Herzog von Buccleuch auf seiner „Grand Tour“ durch Frankreich zu begleiten. In unserer Zeit mag es verwundern, dass ein prominenter Professor seine Karriere für den Bildungstrip eines adeligen Teenagers aufgab – damals lag es nahe. Die gut zweijährige Tätigkeit als Tutor war finanziell attraktiver als das Gehalt an der Glasgower Universität und verhalf Smith zu einer lebenslangen Rente. Sie brachte ihm zudem internationale Erfahrungen. Er nutzte die Reise, die ihn unter anderem nach Toulouse, Genf und Paris führte, für die eigene Bildung; seine Reisebekanntschaften sind geradezu ein Who-is-who der progressiven französischsprachigen Intelligenz.

Nach Britannien zurückgekehrt, nahm Smith seine Universitätskarriere nicht wieder auf. 1776 veröffentlichte er sein Hauptwerk: „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, zu Deutsch: „Der Wohlstand der Nationen“.

Die letzten Jahre seines Lebens verlebte Smith hochgeehrt in Edinburgh. Kurz bevor er am 17. Juli 1790 verstarb, sorgte er dafür, dass nahezu sein gesamter wissenschaftlicher Nachlass verbrannt wurde – für die Smith-Forschung ein unersetzlicher Verlust, für ihn selbst der Versuch, sein Denken vor Zerfledderung durch die Wühlarbeit ungebetener Interpreten zu retten.

Der andere Smith

Gründlich missverstanden wird Smith trotzdem. Ob als linke Kritik oder liberale Lobrede formuliert – das gängige Smith-Bild basiert im Wesentlichen auf Unkenntnis.

Wie alle Vertreter der klassischen politischen Ökonomie – und in schroffem Gegensatz zur heute dominierenden Neoklassik – stellte Smith die Arbeit in den Mittelpunkt seines Denkens. Dies beginnt bereits mit dem ersten Satz seines Hauptwerks:

„Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht.“

Von diesem Gedanken ausgehend, gelangte er auf kurzem Weg zur Unterscheidung produktiver und unproduktiver Bevölkerungsschichten:

„In zivilisierten und wohlhabenden Gemeinwesen ist das Sozialprodukt hingegen so hoch, dass alle durchweg reichlich versorgt sind, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht arbeitet und viele davon den Ertrag aus zehn-, häufig sogar hundertmal mehr Arbeit verbrauchen als die meisten Erwerbstätigen.“

Smiths „Wohlstand der Nationen“ kennt den Begriff des Mehrprodukts (englisch: „surplus“). Kein Randthema – ganz im Gegenteil: Seine Behandlung ist Ausgangspunkt aller weiteren theoretischen Entwicklungen. Smith erkannte auch die Klassenteilung der Gesellschaft in Arbeiter, Kapitalisten und Landbesitzer. Deren Beziehung zueinander sei konfliktbeladen:

„Die Arbeiter wollen so viel wie möglich nehmen, und die Unternehmer sowenig wie möglich geben. Die ersteren sind geneigt, sich zu vereinigen, um die Arbeitslöhne zu steigern, die letzteren, um sie zu senken.“

Smith wusste, dass das Machtverhältnis der Klassen asymmetrisch ist:

„Es ist indes nicht schwer vorauszusehen, welche der beiden Parteien unter normalen Verhältnissen bei dieser Kontroverse das Übergewicht besitzen muss und die andere zur Erfüllung ihrer Bedingungen zwingt. Da die Unternehmer nicht so zahlreich sind, können sie sich viel leichter zusammenschließen, und außerdem werden ihre Vereinigungen gesetzlich gebilligt oder zumindest nicht verboten wie die der Arbeiter.“

Smith ergriff Partei – nicht für das Kapital, sondern für die Arbeiter. Zur Frage von Lohnerhöhungen schrieb er:

„Ist diese Verbesserung der Lebensumstände der unteren Schichten auch für die Gesellschaft als Ganzes vorteilhaft oder nachteilig? Die Antwort scheint auf den ersten Blick äußerst einfach zu sein. Dienstboten, Tagelöhner und Arbeiter bilden die Masse der Bevölkerung eines jeden Landes, sodass man deren verbesserte Lebenslage wohl niemals als Nachteil für das Ganze betrachten kann. Und ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weithin in Armut und Elend lebt. Es ist zudem nicht mehr als recht und billig, wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, dass sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können.“

Wie nach ihm David Ricardo und Marx kannte Smith den Doppelcharakter der Ware und übernahm die aristotelische Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert. An zentraler Stelle zog er arbeitswerttheorietische Schlüsse:

„Arbeit ist demnach ganz offensichtlich das einzige allgemein gültige und auch das einzige exakte Wertmaß oder der alleinige Maßstab, nach dem man die Werte der verschiedenen Waren immer und überall miteinander vergleichen kann.“

Ein Satz, der – wenn auch nicht völlig marxistisch – ganz sicher weit näher an Marx als an der Grenznutzentheorie der Neoklassik liegt.

Liberalismus und Theologie

Der liberale Mainstream – ob in Presse oder Wissenschaft – geht mit derartigen Textstellen auf eigene Art um. Meist werden sie schlicht ignoriert. Smith als Gegner von Zöllen und Handelsschranken sowie staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft ist in aller Munde. Smith als Theoretiker der Klassengesellschaft, des Arbeitswerts, der Konzentration des Kapitals, einer tendenziell fallenden Profitrate oder auch als Anhänger des Rechts auf kostenlose Bildung kommt nicht vor. Falls dergleichen doch einmal den spätbürgerlichen Wahrnehmungshorizont überschreitet, ist es den liberalen Smith-Interpreten eher peinlich. Horst Recktenwald, der bundesrepublikanische Herausgeber des „Wohlstands der Nationen“, schrieb zum Thema der Arbeitswertlehre:

„Auf diesem Holzweg sind ihm nicht wenige gefolgt, voran Ricardo und später Marx, in der Praxis Owen und einzelne kommunistische Länder (…) Die Vermengung seiner Entwicklungstheorie mit der Marktanalyse ist auch hier letztlich die Ursache für viele ideologiebezogene Zitate. Dabei ist sein Suchen nach einem absoluten Wertmaß völlig überflüssig für seine Theorie der Marktwirtschaft. Es hat ihn selbst und Ricardo verwirrt, für Marx‘ Ideologie war es natürlich gleichsam ein gefundenes Fressen.“

Was weiß der deutsche Bildungsbürger vom Inhalt des „Wohlstands der Nationen“? Zwei Dinge: die Arbeitsteilung und die „unsichtbare Hand“. Das ist verwunderlich. Das Thema Arbeitsteilung wurde seit der Antike immer wieder behandelt; Smith argumentiert hier zwar literarisch interessant, inhaltlich aber wenig originell. Im Fall der „unsichtbaren Hand“, die die egoistischen Bestrebungen der Marktteilnehmer zum allgemeinen Besten wandelt, sieht es ähnlich aus. Die Gründe, warum diese Formulierung in der Smith-Rezeption eine so überragende Bedeutung gewonnen hat, sind tatsächlich zunächst unsichtbar. Die „unsichtbare Hand“ wird in Smiths „Wohlstand der Nationen“ nur ein einziges Mal erwähnt – und dies geschieht zudem eher beiläufig, im vierten der fünf Bücher. Die extreme Fokussierung der Smith-Rezeption auf diesen einen Punkt resultiert nicht aus Smiths Darstellung – er wird betont, weil er hervorragend ins neoliberale Narrativ passt.

Smith war, wie viele Aufklärer am Vorabend der Französischen Revolution, ein Deist. Er war Anhänger einer Weltsicht, die zwar von der Existenz eines allmächtigen Schöpfergottes ausging, der mit den Göttern der traditionellen Religionen aber nicht mehr viel zu tun hatte. Der christliche Gott ist ein sich offenbarender, ein Wunder wirkender Gott. Der Deismus weist solche Vorstellungen zurück. Ein wundertätiger Gott könne kein allmächtiger Gott sein, denn im Wunder offenbare sich nicht Gottes Stärke, sondern seine Schwäche. Es sei der Verstoß gegen die Naturgesetze, die Gott selbst geschaffen habe. Gott pfuscht sich selbst ins Handwerk und gibt zu, dass seine Schöpfung mangelhaft ist. Wäre sie perfekt, dann müsste er nicht nachträglich in sie eingreifen. Ein Wunder wirkender Gott gleicht einem stümperhaften Uhrmacher, der seine Uhren nachstellen oder reparieren muss. Die Uhr eines allmächtigen Uhrmachers läuft richtig.

Smith übertrug diesen Gedanken vom Himmel auf die Erde und machte ihn zur tragenden Säule seiner Moralphilosophie und seiner Ökonomie. Selbst wenn die Menschen die gesellschaftlichen Zwecke so wenig kennen wie das Zahnrad den Zweck der Uhr kennt, selbst wenn sie nur ihren eigenen, kleinlichen, schäbigen, egoistischen Zwecken folgen, so erfüllen sie doch ihre Aufgaben für eine letztlich harmonische Gesellschaft. Dies ist möglich, weil ein genialer Uhrmacher die Welt in seiner Weisheit so trefflich eingerichtet hat. Die „unsichtbare Hand“ ist die Hand des deistischen Gottes. Griffe der Staat nicht künstlich von außen in die Abläufe der menschlichen Gesellschaft ein, überlasse man die Dinge dem in ihrer Natur liegenden Streben, dann vollziehe sich der Wille der göttlichen Vorsehung und ende alles in langfristiger Harmonie. Smith optimistischer Glaube an die Funktionsfähigkeit des Laissez-faire resultierte aus seinem Glauben an die Existenz eines metaphysischen Prinzips. Fundament ist die Annahme einer übernatürlichen Macht, die die natürlichen Prozesse zu Beginn der Schöpfung vernünftig geordnet hat.

Man hüte sich davor, schlecht-atheistisch über diesen Gedanken zu spötteln. Der Deismus war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur wissenschaftlichen Betrachtung der Welt – er setzte die Beschreibung der Gesetze von Natur und Gesellschaft an die Stelle von Wundererzählungen und Offenbarungen. Nicht Smith ist zu schelten, es sind die liberalen Ideologen von heute, die – weit davon entfernt, seine zeitbedingten Defizite überwunden zu haben – hinter seinen Erkenntnisstand zurückfallen. Die Metapher der „unsichtbaren Hand“ ergibt im deistischen Kontext durchaus Sinn. Ohne dessen Berücksichtigung fehlt ihr die Begründung, wird sie bloßer Glaubenssatz, schlechte Ideologie. Andersherum formuliert: Wer immer schon den Verdacht hatte, der neoliberale Glaube an die segensreiche Allmacht der Märkte hätte mehr mit Religion als mit Wissenschaft zu tun, findet hier ein Argument.

Nach Smith

Vom „Wohlstand der Nationen“ führt eine direkte Traditionslinie über Ricardo zu Marx. Es existieren andere Traditionslinien, die in andere Richtungen verweisen. So finden sich bei Smith gleich mehrere Wertlehren. Wo er mit seiner oben zitierten Arbeitswerttheorie an Grenzen stieß, etwa beim Versuch einer Erklärung des Austausches zwischen Kapital und Arbeit, griff er auf einen alternativen Ansatz zurück, der den Wert der Waren auf die Einkünfte von Arbeitern, Kapitalisten und Grundeigentümern zurückführte. Beide Wertlehren sind inhaltlich unvereinbar. Marx korrigierte die erstere dahingehend, dass es nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft sei, die der Arbeiter verkaufe. Jean-Baptiste Say, Smiths erster großer Popularisator, entwickelte aus dem zweiten Ansatz die Lehre von den drei Produktionsfaktoren, die bis heute zum Standardrepertoire der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre zählt.

Derartige Beispiele zeigen, wie sich zeitbedingte Widersprüche im Werk des großen Schotten nach mehreren Seiten hin interpretieren lassen. Löst man sie historisch auf oder nutzt man sie zum Rosinenpicken? Smiths „Wohlstand der Nationen“ kann – geht man hinreichend selektiv vor – als wirtschaftsliberale Stichwortsammlung gelesen werden, als Teil der Heldengeschichte des Laissez-faire-Kapitalismus. Er kann ebenso gelesen werden als ein beeindruckend geschriebenes Dokument der Aufklärung, als Hauptwerk der klassischen politischen Ökonomie und als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Marxismus.

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"Der doppelte Smith", UZ vom 16. Juni 2023



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