Teil 2: Denken im Fluss – Besonderheiten der chinesischen Philosophie

Der chinesische Entwicklungsweg

In der Fortsetzung unserer Serie zur Volksrepublik China (siehe UZ vom 8. August) wenden wir uns den philosophischen Besonderheiten der chinesischen Entwicklung zu. Dazu bringen wir Auszüge eines Artikels von Hans Heinz Holz, der sich mit den chinesischen Denktraditionen und ihrer Rezeption im Werk Maos beschäftig. Mao Zedongs Gedicht „Ode an die Winterkirsche“ ist die Weiterentwicklung eines klassischen chinesischen Gedichts, welches die ewige Wiederkehr des Naturzyklus in den Mittelpunkt stellt. Mao hingegen betont die Gerichtetheit der Entwicklung, die im Noch-Winter durch die Blüte der Kirsche den Noch-Nicht-Frühling andeutet. Damit wächst das Gedicht über sich selbst als reines Naturgedicht hinaus und bekommt eine politische Dimension.

Vielen Dank für die bisherigen Vorschläge für Debattenbeiträge. Wir sortieren derzeit und werden uns dann rechtzeitig mit den Autoren in Verbindung setzen.

Die Lehre vom Widerspruch

Von Hans Heinz Holz

Maos Gedichte führen auf die Form seines Denkens: begriffene Anschauung, angeschauter Begriff, beides in einem und nicht voneinander separierbar, wie es die Beschaffenheit der chinesischen Sprache vorgibt. Eine Besonderheit dieser begriffenen Anschauung ist hervorzuheben: sie orientiert sich an Gegensätzen, die als Erscheinung eines wesentlichen Widerspruchs gefasst werden. (…)

Am Bild der Winterkirsche war zu begreifen: das Künftige ist nicht fern, es zeigt sich im Jetzt; das Eine ist schon nicht mehr es selbst, das Andere wohnt in ihm und verwandelt es; die weißen Flocken, die in der Luft treiben, mögen Schnee sein oder auch vom Winde hochgewirbelte Prunus-Blüten. Vertrauen wir nicht darauf, dass die Dinge sind, wie sie sind; ihre Veränderung liegt in ihnen selbst begründet, sie tragen den Widerspruch in sich.

Hegels Dialektik, von Marx aus dem Reich der Begriffe in die Welt der realen Verhältnisse zurückgeholt, ist chinesischem Denken so fern nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. (…) Der Widerspruch ist nicht einfach ein Widerspruch zwischen Verschiedenem, sondern ein Widerspruch in Ein-und-demselben, ein Selbstwiderspruch. Das Eine als das Ganze kann nicht widerspruchsfrei gedacht werden, es kann aber auch nicht nicht gedacht werden, weil sonst das Viele nicht als Zusammenhängendes, Verbundenes (und sei es auch nur durch die Kategorie der Negation Verbundenes) gedacht würde – was jeder Erfahrung des Denkens zuwiderliefe. (…)

Die Hegelsche Dialektik macht das Seiende zu etwas Flüssigem, Uneindeutigem, für das der Identitätssatz nur unter der Voraussetzung einer Beobachtungsanordnung gilt, die den Zeitfaktor außer Acht lässt. Indem sie die Statik der Begriffe auflöst, nähert sie das Denken wieder der Wirklichkeit und der Erfahrung, die durch die klassische Logik eher verdeckt als kenntlich gemacht worden war. Insofern denkt Hegel gegen die Erstarrung der Sprache, die sich im logischen Vorrang der Prädikation, in der definitorischen Endgültigkeit der Kopula niedergeschlagen hat.

Solcher Erstarrung ist das Chinesische nie erlegen. Die Flüssigkeit der Begriffe ist ihm so selbstverständlich, dass Hegels Anstrengung dort verschwendete, weil überflüssige Liebesmühe wäre. Sobald die Verhältnisse in Bewegung geraten, fällt es dem Chinesen nicht schwer, auch die Begriffe in Bewegung zu versetzen. Der Veränderung der Wirklichkeit bietet die Sprache kein Hindernis, sie legt das Gegebene nicht ein für allemal fest, sondern umreißt nur seinen semantischen Spielraum, den natürlichen wie den geschichtlichen. Die Kontinuität der Übergänge, der Umschlag der Beschaffenheiten ist dem chinesischen Denken von seinen Anfängen her geläufig. (…)

Mao Zedong beruft sich gleich zu Eingang seiner Abhandlung „Über den Widerspruch“ auf die marxistisch-leninistische Tradition. „Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze ist das fundamentale Gesetz der materialistischen Dialektik.“ Die Kontinuität der dialektischen Linie Hegel-Marx-Lenin-Mao ist gewährleistet, die vermittelnde Schlüsselposition nimmt Lenin ein, dessen Dialektik-Verständnis an dem von Engels orientiert ist. (…)

Aus dieser Sicht gewinnt die berühmte Lehre Maos von den Haupt- und Nebenwidersprüchen einen mehr als bloß pragmatischen Charakter; sie erweist sich als ein Glied im Aufbau eines streng logischen Gefüges von Kategorien. Sofern nämlich in einem universellen und wechselseitigen Bedingungszusammenhang jeder partikuläre Sachverhalt zugleich in einer Hinsicht als Gattung anderer Sachverhalte und in anderer Hinsicht als deren Art fungieren kann, muss der in ihm eingeschlossene Widerspruch als ein genereller, gattungsbestimmender oder als eine differentia specifica, als artbestimmend aufgefasst werden können. Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital ist in der bürgerlichen Gesellschaft als der Grundwiderspruch der durch ihre Struktur (= Eigentumsverhältnisse) bedingten Aneignungsweise ein genereller; er ist ein Hauptwiderspruch. Die Widersprüche zwischen den Kapitalisten verschiedener Länder sind hingegen spezielle, sie sind Nebenwidersprüche. Diese Rangordnung gilt unter der Voraussetzung der friedlichen Konkurrenz zwischen kapitalistischen Ländern. Wo diese Konkurrenz, der Ausdruck der Widersprüche zwischen den Kapitalisten verschiedener Länder, zum Krieg führt, der den Bestand eines ganzen nationalen Wirtschaftssystems und sogar das Leben der Kapitalisten wie der Ausgebeuteten bedroht, kann der Hauptwiderspruch zurücktreten und der Nebenwiderspruch zeitweilig die Rolle des Hauptwiderspruchs übernehmen; denn das Leben ist die Gattung, von welcher die Gesellschaftsformen Arten sind, und auf dieser Umkehrung der Gattungsverhältnisse beruht die Möglichkeit eines Klassenbündnisses der nationalen Front. Selbstverständlich werden sich später die ursprünglichen Relationen wiederherstellen, sobald das temporäre Gattungsallgemeine – hier etwa: der gemeinsame Überlebenswille gegenüber den partiellen Klasseninteressen, die nationale Einheit der Produktion gegenüber einer globalen und verschärften Ausbeutung durch die Landesfremden – sich wieder auflöst; im besetzten Gebiet verstehen die Kapitalisten sehr bald ihren Profit durch Kollaboration mit dem Landesfeind zu machen, die fremden Kapitalisten lassen ihnen einen Spielraum für eigene Gewinne, und schon treten die Klassengegensätze wieder als Hauptwiderspruch hervor und haben sogar noch den Nebenwiderspruch des nationalen Gegensatzes in sich aufgenommen: Der Klassenfeind ist als Kollaborateur nun auch noch ein Landesverräter. (…)

Die politischen Konsequenzen dieser strengen Dialektik liegen auf der Hand. Die Schrebergartenidylle einer bei sich selbst und dem Endzweck des Menschengeschlechts angekommenen Gesellschaft, die nur noch in Details weiter ausgeschmückt und vervollkommnet zu werden brauchte, wird von ihr widerlegt.

Die Einheit der Gegensätze löst sich immer wieder in Kampf auf, stellt sich auf höherer Ebene als neue Einheit her und so fort. Sicher gibt es Perioden der Stabilität und der langsamen Reifung, in denen neue Widersprüche erst unterschwellig und nur allmählich auftreten (…).

Hier liegt wohl der Kern der ideologischen Kontroverse zwischen chinesischen und sowjetrussischen Kommunisten. Dem Wortlaut und dem Sinn nach gibt es in Maos Lehre kaum etwas, das nicht aus Lenins Ansätzen abzuleiten oder mit ihnen zur Deckung zu bringen wäre. Die Sowjetgesellschaft indessen befindet sich, nach den ungeheueren Schwierigkeiten, Rückschlägen und Opfern der Interventionskriege, des forcierten industriellen Aufbaus und des Zweiten Weltkriegs, in einem Zustand, in dem die neue Herausforderung durch den Kalten Krieg schwer zu ertragen war. Nach dreißig Jahren harten Kampfes ist das Bedürfnis nach Ruhe, der Wunsch nach dem Genuss der Früchte aller übermenschlichen Leistungen der Aufbauzeit, die Zufriedenheit mit dem Erreichten allgemein. Die inneren Widersprüche der Gesellschaft treten eher versteckt auf und werden nicht als gravierend empfunden. Unruhe herrscht allenfalls unter einigen – keineswegs allen – Intellektuellen (und bei ihnen oft nur verworren), nicht aber unter den breiten Massen. Der Widerspruch wird als einer von außen – zwischen dem kapitalistischen Imperialismus und dem Sowjetsystem –, nicht auch als ein innerer erfahren. (…)

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Eulenspiegel Verlagsgruppe

Aus: Hans Heinz Holz „Die Klassiker der III. Internationale – Aufhebung und Verwirklichung der Philosopie – Band 2“

ISBN 978–3-359–02511-5, 24,95 Euro

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"Der chinesische Entwicklungsweg", UZ vom 6. September 2019



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