Über Zensur und Gesinnungsprüfung mit der Antisemitismuskeule

Der „Chilling-Effekt“

Chris Hüppmeier

Vor gut zwei Monaten sorgte eine fördermittelrechtliche Prüfung im Bundesforschungsministerium für einen Aufschrei. Ein Sturm der Empörung zog durch die heiligen akademischen Hallen: Nichts weniger als einen eklatanten Eingriff in die grundgesetzlich verbriefte Freiheit von Forschung und Lehre stelle es dar, wenn eine Staatssekretärin, vermutlich im Auftrag der Forschungsministerin selbst, Berliner Hochschullehrern die Fördermittel streichen will, weil diese des Antisemitismus verdächtigt werden. Ein Offener Brief, den rund 100 Berliner Hochschullehrer unterzeichneten, zeigte sich einigermaßen solidarisch mit Protesten propalästinensischer Studenten. Von Antisemitismus allerdings keine Spur, so die breite Meinung innerhalb der Wissenschaftscommunity. Die besagte Staatssekretärin musste ihren Hut nehmen, wurde zum Schweigen verpflichtet, während die Ministerin Stark-Watzinger von der FDP weiter im Amt ist.

Heute, fast drei Monate später, zeigt sich: Zensur durch die Hintertür gilt längst als adäquates Mittel weit über das Forschungsministerium hinaus. Die Ampel-Parteien, im Schulterschluss mit den Christdemokraten, planen eine entsprechende Bundestagsresolution „zum Schutz jüdischen Lebens“. Es geht um nichts weniger als eine Gesinnungsprüfung, auch für Wissenschaftler, wenn sie Fördermittel für ihre Forschung und Lehre beantragen wollen. In Zukunft könnten also Verfassungsschutzorgane darüber entscheiden, ob Wissenschaftler Antisemiten sind oder nicht und damit, ob ihnen öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt werden sollen oder nicht. Die Zauberformel, die hier entscheidend sein soll, ist die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance – kurz IHRA. Eine ausgemachte Antisemitismuskeule, die Kritik am Staat Israel als israelbezogenen Antisemitismus deklariert. International höchst umstritten, in Herrschaftskreisen der BRD jedoch längst der Status Quo.

Auch wenn Kommentatoren in einigen bürgerlichen Medien und Kulturschaffende inzwischen leise Kritik an der geplanten Resolution formulieren: Die „deutsche Staatsräson“ ist ein zentrales Instrument für den reaktionär-militaristischen Staatsumbau. Aber sie steht nicht allein. Wenn eine Forschungsministerin Grundrechte schleift, in Bayern Zivilklauseln per Gesetz verboten werden oder Jugendoffiziere die Militarisierung der Jugend vorantreiben, dann sind das nur unterschiedliche Bestandteile des gleichen Prozesses, der Stück für Stück zur „kriegstüchtigen Gesellschaft“ führen soll.

Auch die geplante Resolution der selbsternannten Schützer von jüdischem Leben fällt nicht vom Himmel. Bereits im Dezember letzten Jahres haben einige anerkannte Verfassungsrechtler in einem lesenswerten Artikel auf verfassungsblog.de die Resolutionspläne der Bundesregierung kritisch eingeordnet: Die Einführung der IHRA-Definition ins deutsche Recht betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche von der Wissenschaft über die Kunst bis hin zum Aufenthalts- und Asylrecht. Dahinter stecke die Hoffnung, dass sich ein sogenannter „chilling effect“ einstellt, heißt es im Artikel der Verfassungsrechtler. Damit werden die Auswirkungen von rechtlichen Maßnahmen bezeichnet, die Menschen bei der Ausübung ihrer legitimen Rechte hemmen und von unerwünschtem Verhalten abschrecken. „Einschüchterungseffekte“ nennt das das Bundesverfassungsgericht. Kurzum: Es geht um politische Gesinnungsprüfung und Selbstzensur. Über Krieg und Völkermord, über Sozialabbau und Militarisierung der Köpfe soll nicht mehr gesprochen werden. Nicht auf der Straße, nicht in der Uni, nicht im Atelier, nicht im Arbeitsamt oder der Ausländerbehörde.

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"Der „Chilling-Effekt“", UZ vom 2. August 2024



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