Referat auf der 3-Parteien-Konferenz am 11. und 12. Juni 2022 in Remich (Luxemburg)

Der Charakter der aktuellen Phase der Krise des Kapitalismus

Stefan Müller

Die Politik der Regierung der BRD (sowie Luxemburgs und der Niederlanden) und der EU zur Bewältigung der Krisenfolgen

Das Kräfteverhältnis unter den Kapitalisten nach 1945 entwickelte sich unter dem starken Einfluss der Sowjetunion. Das Kalkül der alliierten Imperialisten, dass Deutschland und die SU sich gegenseitig ausbluten, war nicht aufgegangen.

Angesichts der Erfolge der Roten Armee, des weltweiten Widerstands unter kommunistischer Führung und der Gefahr sozialistischer Revolutionen beendeten die USA den 2. Weltkrieg mit einem Dilemma, das bis heute ihre Strategie prägt:
Einerseits soll das kapitalistische Weltsystem erhalten werden. Der Sozialismus an der Macht, damals vor allem die SU, muss weg, genauso wie alle Ansätze anderer Länder, aus dem System auszubrechen. Dazu muss das imperialistische Lager zusammengehalten werden.

Andererseits will die US-Finanzoligarchie die Führung im kapitalistischen Weltsystem nicht wieder abgeben. Dazu müssen die anderen imperialistischen Großmächte als potentielle Konkurrenten niedergehalten werden.

Die USA müssen also die Widersprüche unter den Imperialisten unter Kontrolle halten. Dazu dient seitdem vor allem die NATO, deren Struktur von dem Dilemma der US-Strategie geprägt ist.

Eugen Varga, seit der Zusammenarbeit mit Lenin in der Kommunistischen Internationale eine Art Chefökonom der Weltbewegung, konstatierte ab 1945 den Beginn einer 2. Epoche der Allgemeinen Krise des Kapitalismus.

Den Widerspruch zwischen den beiden Zielen der US-Strategie – Dominanz der kapitalistischen Welt und Weltpolizei gegen den Sozialismus – nutzte die zum zweiten Mal geschlagene deutsche Finanzoligarchie für ihr Überleben und ihren Wiederaufstieg. Sie bot sich den USA an gegen eine Volksfront in Deutschland und als Militärbasis gegen die SU. Dafür und für die vorläufige Aufgabe des Ostteils Deutschlands erhielt sie die Remilitarisierung und eine teilweise Souveränität, allerdings unter Aufsicht der NATO und der Montanunion.

Spätestens seit 1945 dominieren die USA die weltweite Entwicklung ökonomisch, politisch, militärisch und kulturell, wobei hervorzuheben ist
1. die Kontrolle über entscheidende Technologien, vor allem auch militärische. Und
2. die Kontrolle der Finanzmärkte. Unter dem Währungssystem von Bretton Woods zahlte die imperialistische Welt praktisch Tribut an die USA.

Durch permanente Interventionen versuchen also die USA das ‚Roll-Back‘ des Sozialismus. Das gelang zunächst nicht in der SU und in den östlichen Teilen Europas, die nicht von den USA militärisch kontrolliert waren, auch nicht in China, Kuba und Indochina, und in Korea nur teilweise.

Wegen der enormen Militärausgaben der USA als imperialistischer ‚Weltpolizist‘ hielt Bretton Woods nur bis in die 70er Jahre, aber die USA bleiben dominant im kapitalistischen Weltfinanzsystem, auf dem Ölmarkt und in der Atomtechnologie, in Luft- und Raumfahrt und vor Allem in der Elektronik.

Der Widerspruch Frankreichs gegen diese US-Hegemonie erlaubte es der BRD, die Montanunion zur EWG und EU auszubauen und zusammen mit Frankreich zu dominieren. Die deutsche Finanzoligarchie erhofft sich, so bei der Neuaufteilung der völlig aufgeteilten Weltmärkte wieder als Großmacht mitreden zu können.

Eine neue Phase begann mit den Konterrevolutionen in der SU und den europäischen sozialistischen Ländern. Eine Neuaufteilung der Welt, zunächst ohne Weltkrieg, war möglich geworden. Zwischen den USA und den anderen imperialistischen Mächten, die gemeinsam auf das ‚Roll Back‘ hingearbeitet hatten, begann nun der Kampf um die Märkte.

Zur Öffnung der Märkte Osteuropas und Zentralasiens kam die Reform- und Öffnungspolitik der VR China. Zur Enttäuschung des Imperialismus ist aber die VR China nicht bereit, die Kontrolle über die Marktöffnung aus der Hand zu geben und in Russland erlangte der Staat unter Putin die Kontrolle zurück. Wegen der unerhörten Entwicklung der Produktivkräfte in der VR konzentriert sich die Aggressivität der USA gegen China.

Die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte auf Grundlage von Kybernetik und Mikroelektronik hat das Finanzkapital weiter enorm konzentriert und verlangt ganz offensichtlich nach Vergesellschaftung, verlangt Sozialismus. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wird zur sichtbaren Fessel der Weiterentwicklung. Die Unfähigkeit selbst der reichen imperialistischen Länder, die Versorgung der breiten Massen der eigenen Bevölkerung zu sichern, wird nun überdeutlich im aktuellen staatsmonopolistischen Kapitalismus. Systemnotwendige Infrastruktur wie Wohnung, Bildung, Transport oder Gesundheitswesen wird im Kampf der Monopole um Dominanz vernachlässigt, während Rüstungsausgaben immer weiter steigen.

Der deutsche und der französische Imperialismus konkurrieren um die Dominanz in der EU, kooperieren aber, um die EU von den USA unabhängig zu machen. Die USA wollen das verhindern, brauchen die EU aber als Verbündete gegen China. Vor allem die deutschen Monopole sind jedoch auf die Expansion auf dem Markt in China angewiesen. Der deutsche Imperialismus muss ständig den Waren- und Kapitalexport steigern, weil seine Kapitaldominanz auf relativ niedrigen Löhnen im Verhältnis zur Produktivität aufbaut, d.h. im eigenen Markt gibt es nicht genug Kaufkraft im Verhältnis zur Kapitalakkumulation.

In dieser Situation kommt Russland eine Schlüsselrolle zu. Nachdem in der Sowjetunion die kommunistische Partei die Kontrolle über die Staatsmacht und die Öffnung der Märkte verloren hatte, begann, wie erwähnt, der Kampf der Kapitalisten um die Beute. Einheimische Kräfte kämpften aus staatsnahen Machtpositionen in wechselnden Allianzen mit anderen einheimischen aber natürlich auch ausländischen Kräften um die Kontrolle der Ressourcen. Mangels einer entwickelten politökonomisch fundierten Theorie der Rückentwicklung sozialistischer Ökonomien in kapitalistische lässt sich hier nur festhalten, dass nach der Auflösung der SU auch die Russische Föderation unter Jelzin auf dem Weg der Auflösung war. Das hätte wohl die Abhängigkeit von ausländischen Monopolen unter Führung der USA bedeutet mit der Gefahr, Russland in eine Halbkolonie des Imperialismus zu verwandeln. Mit der Konsolidierung der Staatsmacht der RF unter Putin gewann die neue nationale Bourgeoisie die Kontrolle über die Entwicklung zurück. In der Reaktion darauf zeigen sich Widersprüche zwischen den Interessen der US- und der europäischen Monopole, die auch beim Kampf um die Beute in der Ukraine deutlich wurden, spätestens beim Maidan-Putsch.

Während die USA ihre Interessen nach ihren Regeln mit ihrer überlegenen Staatsmacht unipolar durchsetzen wollen und dazu die Gefolgschaft der EU-NATO-Länder einfordern, wollen vor Allem Deutschland und Frankreich diese Gefolgschaft gerade nicht und fordern multipolar gesetzte Regeln ein, die ihnen eine Beuteverteilung auf gleicher Augenhöhe sichert.

Das haben die deutschen und französischen Imperialisten auch im Ukraine-Konflikt 2014 mit den Minsker Verträgen verfolgt, d.h. 4-Parteien-Gespräche zwischen Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland, ohne die USA.

Gleichzeitig wiesen sie die USA darauf hin, dass eine zu aggressive Haltung Russland näher zu China bringen würde und umgekehrt.

Auf der Sicherheitskonferenz 2020 in München rief der US-Außenminister Pompeo zum offenen Kalten Krieg gegen China auf, ohne auf einmütige Zustimmung von Deutschland und Frankreich zu stoßen. Macron konterte mit der Forderung nach digitaler und nuklearer Souveränität der EU.

In dieser Situation suchte die US-Finanzoligarchie den taktischen Ausweg in der verschärften Aggression gegen Russland. Die ‚NATO-Partner‘ wurden in die immer engere Einkreisung Russlands eingebunden. Nachdem sich Russland in der belorussischen Krise nicht in einen Krieg ziehen ließ, ist das nun leider in der Ukraine gelungen. Das Ziel des US-Imperialismus ist deutlich: Putin stürzen, Russland destabilisieren und China das große und rohstoffreiche Hinterland nehmen. China wird gewarnt, Russland zu retten bei Strafe eines Totalembargos. Damit soll die Allianz von China und Russland gesprengt werden. Die EU soll an die Seite der USA gezwungen werden.

Die deutsche Finanzoligarchie muss nun ihre Unabhängigkeitspolitik, die sie in Kooperation mit Frankreich in der EU durchsetzen will, taktisch anpassen. Die von der EU 2020 formulierten, als ‚New Green Deal‘ vorgestellten strategischen Themen bleiben:

  • Klima retten heißt jetzt schnellstmögliche ‚Dekarbonisierung‘. Dabei geht es um die Unabhängigkeit von den Öl- und Gasmärkten, die von den USA kontrolliert werden. Die deutsche Zwischenlösung mit dem russischen Gas ist nun gefährdet. Um die Zugeständnisse an die US-Öl- und Gaswirtschaft wird noch gerungen, dabei ist die französische Finanzoligarchie durch ihre atombedingt fortgeschrittenere Dekarbonisierung im Vorteil.
  • Das zweite strategische Thema der EU ist die digitale Souveränität, ohne die die geplante unabhängige Rüstungstechnologie nicht möglich ist. Auch hier wird um die Zugeständnisse an die US-Rüstungs- und Digitalwirtschaft noch gerungen.
  • Im ‚New Green Deal‘ nicht vorgestellt, aber vorausgesetzt ist das dritte strategische Thema, das unabhängige Währung- und Finanzsystem auf Basis des Euro. (Ein Motiv für die Einführung des Euro war die Lehre, die der deutsche Imperialismus aus dem Plaza-Abkommen von 1980 gezogen hatte, durch das Japan durch eine Aufwertung des US-Dollar zur Abwertung gezwungen war und Handelsvorteile verlor, weil der jap. Yen zu wenig Gewicht auf dem Weltmarkt hat.)

Der Ukraine-Krieg und die dadurch erzwungenen Zugeständnisse an das US-Kapital treffen den deutschen Imperialismus in einer Situation, in der man sich bereits auf dem Weg sah, aus der zyklischen Krise, die 2018 begonnen hatte, herauszukommen, trotz der Rückschläge durch die Pandemie.

Im 2. Quartal 2018 sehen wir den Höhepunkt der Industrieproduktion, im 2. Quartal 2020 den Tiefpunkt. Im 1. Quartal 2022 liegt nun die Industrieproduktion immer noch etwa 5 Prozent unter dem Vorkrisenhöchststand. Ein weiterer Aufschwung ist unwahrscheinlich, auch wenn die meisten Großkonzerne Rekordgewinne und steigende Umsätze melden.

Denn das gilt nicht für die Masse der mittleren und kleineren Kapitale, die in Umfragen die derzeitigen Schwierigkeiten für schwerwiegender halten als die Pandemie, wo man sich relativ schnell mit Staatshilfen stabilisierte. Aber noch halten sich die Insolvenzen in Grenzen und die Erwerbslosenzahlen bleiben relativ stabil (auf hohem Niveau).

Die Gesamtentwicklung wird besonders von drei Faktoren abhängen:

  • Erstens: Der US-Imperialismus, der mit Ge- und Verboten aller Art, Sanktionen, Embargos etc. die deutsche Regierung auf Linie bringen will, hat zwar nicht mehr die ökonomische Macht in der BRD, aber nach wie vor enormen politischen Einfluss, auf den der deutsche Imperialismus reagieren muss und damit mittleren und kleinen Kapitalen die Geschäftsgrundlage entziehen kann.
  • Zweitens: Die Entwicklung in China, die von der Pandemiepolitik und der Reaktion auf die internationale Lage abhängt. Und
  • Drittens: Die Inflation, die in die gefürchtete Stagflation übergehen könnte.

In dieser sich schnell entwickelnden neuen ökonomischen Krisenlage sucht die deutsche Regierung nach Lösungsmöglichkeiten, um die Krisenlasten vom Monopolkapital fernzuhalten, ohne eine politische Krise zu erzeugen. Das heißt, der ‚soziale Friede‘, die freiwillige Unterordnung der Massen unter den staatsmonopolistischen Kapitalismus soll erhalten bleiben.

Dabei greift die Regierung auf Mittel zurück, die bereits vor der Pandemie in Erwartung der zyklischen Krise bereitgestellt wurden, gesprochen wurde von 500 Milliarden in Deutschland und 750 Milliarden der EU.

Die Frage ist, ob massive Staatsinterventionen mit frischem Geld unter dem zunehmenden Druck von Innen und Außen das labile Gleichgewicht zugunsten der deutschen Finanzoligarchie noch einmal herstellen können.

Der archimedische Punkt des „sozialen Friedens“ liegt dabei in der Hegemonie der Sozialpartnerschaftsideologie in den mächtigen Gewerkschaften des DGB mit Sozialdemokraten in der Führung. Die einwirkenden Klassenkräfte beider Seiten sind immer noch aufgebaut um die Betriebsratsfürsten der Großindustrie mit der Autoindustrie in Verteidigungsstellung und der Elektronikindustrie im Aufstieg. Das verschafft der SPD Einfluss und auch den Grünen – 22 Prozent der Grünen-Mitglieder sind in DGB-Gewerkschaften und haben starke Positionen im öffentlichen Dienst.

Die traditionellen Kleinbürger, die hauptsächlich höhere Steuern fürchten und ihre rechtsliberalen Politiker hatten in der Pandemie stillgehalten, als die Staatsschulden für Rettungsaktionen weiter aufgebläht wurden. Jetzt sind weitere viele hundert Milliarden in der Diskussion. Der vorher eher diskrete Kampf um das Geld wird lauter und für uns etwas sichtbarer: Die bisher führende Autoindustrie warnt vor Abstieg, die Elektronikindustrie ist bereits an den Schaltstellen des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die nichtmonopolistische Industrie, bereits angeschlagen, warnt vor flächendeckenden Arbeitsplatzverlusten.

Gleichzeitig steigt der Druck von außen: Die USA zeigen ihre Macht. Frankreich wartet ab, ob dadurch die deutsche Dominanz in der EU geschwächt wird.

Die Notwendigkeit der schnellen taktischen Anpassung stößt auch die deutsche Politik in eine Krise. Außer einigen aufrechten Linken, denen große Anerkennung gebührt, wird eine Allparteienkoalition im deutschen Bundestag sichtbar, die um Höhe und Struktur der Staatsgelder feilscht: Wie viele Milliarden für die Besänftigung der USA? Wie viele für das mit Frankreich beschlossene gigantische EU-Rüstungsprogramm? Wie lange kann man die zerbrechende Infrastruktur und die wachsende soziale Krise ignorieren?

Mangels einer griffigen Formel, mit der ich die Charakteristika des aktuellen Zusammenwirkens von allgemeiner und zyklischer Krise in der wachsenden Kriegsgefahr zusammenfassen könnte kann ich nur daran erinnern, was Togliatti in einer ähnlich komplizierten Situation auf dem VII. Weltkongress der KI den Kommunisten geraten hat – ich kürze das Zitat:

„Wir konzentrieren das Feuer auf den Hauptkriegsbrandstifter, wir müssen im Interesse der Verteidigung des Friedens alle Verschiedenheiten, die in den Positionen der einzelnen imperialistischen Mächte bestehen, geschickt ausnutzen und keine Minute vergessen, dass der Schlag gegen den Feind im eigenen Land, gegen den „eigenen“ Imperialismus gerichtet werden muss.“ (Nach Ercoli (Togliatti): Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale, in VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Verlag Marxistische Blätter, 1971, S. 162)

Danke für die Aufmerksamkeit.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.



UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
Unsere Zeit