In „Gagarine“ verliert ein Junge seine Heimat – und Paris seinen Glanz

Der Blick gen Himmel

1963, Ivry-sur-Seine vor den Toren von Paris: niemand anderes als der erste Kosmonaut Juri Gagarin eröffnet die nach ihm benannte Cité Gagarine – ein soziales Großwohnbauprojekt.

2019 ist die Cité Gagarine einer von vielen runtergekommenen Gebäudekomplexen in den Banlieues, den Vorstädten von Paris. Das Bild ist geprägt von Kleinkriminalität, Drogenhandel, Migration – hier leben die Ärmsten, die, die sonst keinen Platz in der Stadt haben.

Doch hier lebt auch der Teenager Youri (Alseni Bathily), dessen Eltern einst aus einem afrikanischen Land nach Paris kamen und dessen Mutter aus der Cité Gagarine und aus dem Dasein als alleinerziehende Mutter floh. Zu einem neuen Mann und einem neuen Kind. Youri hält an der Idee des solidarischen Zusammenlebens in Gagarine fest: als selbsternannter Hausmeister flickt er an dem immer mehr verfallenden Gebäude, was zu flicken geht, und sammelt dafür Geld bei den Nachbarn, wenn sie denn ein paar Euro übrig haben. Beim Schrotthändler tauscht er sogar den Schmuck seiner Mutter gegen Material für die Reparaturen. Für eine Sonnenfinsternis baut er eine Art Pavillon, unter dem die Nachbarschaft auch ohne die Anschaffung teurer Sonnenbrillen mitgucken kann. Youri und seine Bemühungen werden geschätzt, noch wiegt der soziale Zusammenhang in Gagarine mehr als die unzumutbaren Wohnzustände. Wenn er nicht gerade mit Reparaturen beschäftigt ist, träumt Youri davon, es seinem Namensvetter nachzutun – die unendlichen Weiten des Alls sind sein großer Wunsch.

Doch all das Bemühen von Youri und seinen Freunden hilft nicht: als ein verzweifelter Bewohner bei der städtischen Inspektion von Gagarine ein Feuer im Keller legt, bestätigt sich nur die eh schon feststehende Entscheidung: Die Cité Gagarine soll geräumt und abgerissen werden. Einer nach dem anderen zieht aus, die Menschen wollen nicht mehr um ihr Zuhause kämpfen. Youri bleibt allein zurück.

Kontakt hat Youri, der nach und nach wenige Zimmer im Gagrine in eine Art ISS umbaut, nur noch zu dem Roma-Mädchen Diana (Lyna Khoudri), die von seinem Einsiedlertum und seiner Raumstation fasziniert ist, und zum Drogendealer Dali, der auch noch irgendwo in dem Gebäudekomplex untergekrochen ist. Doch als Dali nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Bauarbeitern, die den Abriss Gagarines vorbereiten, verschwindet und das Lager von Dianas Familie auf Anweisung der Stadt zerstört wird, ist auch das letzte schöne Kapitel Gagarines vorbei. Für Youri beginnt ein Countdown zum letzten Hilfeschrei – doch auch der Countdown des Abrisses läuft. Am Schluss halten die Bewohner Gagarines noch ein letztes Mal zusammen. Aber da ist es schon zu spät.

„Gagarine – Einmal schwerelos und zurück“ hätte ein dokumentarischer, sozialkritischer Spielfilm werden können, der sich an den tatsächlichen Begebenheiten um die 2019 zum Abriss freigegebenen Cité Gagarine orientiert. Doch die Regisseure Fanny Liatard und Jérémy Trouilh haben einen bildgewaltigen Film geschaffen, der noch viel mehr in sich vereint. In musikalischen Andeutungen erzählen sie Fluchtgeschichten, stellen dem Film Originalaufnahmen von der Eröffnung mit Yuri Gagarin voran, lassen Youri durch das in eine Raumstation verwandelte Gebäude schweben, in seiner Einsamkeit bald mehr Major Tom als der erste Mensch im Weltall, und vermitteln nicht zuletzt den Eindruck, eine Hommage an Stanley Kubricks „2001“ geschaffen zu haben.

Dabei halten sie trotz der teils fantastischen Bilder und der nicht immer völlig logischen Entwicklung der Geschichte den Blick auf die zunehmende Vertreibung sozialer Randgruppen aus den großen Städten, in denen ehemalige Elendsquartiere als neue hippe Wohngegenden entdeckt und Lebenswelten dem Profit preisgegeben werden. Als einer der alten Kumpels Youri auf die Mailbox spricht, erzählt er lapidar: „Unsere Wohnung ist größer, aber wir kennen niemanden. Hier spricht niemand mit einem.“ Die Gemeinschaft, die Gagarine geprägt hat, ist mit dem Auszug der Bewohner verschwunden.

Beim Abriss der echten Cité Gagarine lagen die Pläne für seine Verwandlung schon lange in der Schublade: bis 2024 sollte hier ein „Ökoviertel“ aus kleinen Siedlungen und Büros entstehen, angeschlossen an die Innenstadt mit neuen Metro- und Straßenbahnverbindungen. Menschen wie die Bewohner Gagarines oder die Roma-Familie von Diana würden da nur den Quadratmeterpreis senken.

Wer die Olympischen Spiele im auf Hochglanz polierten Paris gesehen hat, sollte sich auch „Gagarine“ anschauen.

Gagarine –
Einmal schwerelos und zurück

Frankreich, 95 Minuten, Original mit Untertiteln
Regie: Fanny Liatard und Jérémy Trouilh
Unter anderem mit: Alseni ­Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven, Finnegan Oldfield, Farida Rahouadj, Denis Lavant, Rayane Hajmessaoud, Hassan Baaziz und Salim Balthazard
Im Kino

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Der Blick gen Himmel", UZ vom 16. August 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit