Es ist ein wenig unlauter, von hier und heute aus Werk und Wirkung eines Schriftstellers zu beurteilen, der in der Bonner Republik lebte und arbeitete, ohne die spezifischen Verhältnisse und Bedingungen zur Grundlage einer Würdigung zu machen. Vater, Schreinermeister in Köln, ein Handwerker, der durch die Wirtschaftskrise 1923 sein Geschäft schließen musste, danach ärmliches Leben der großen Familie. Dennoch schafft der Sohn das Abitur 1937, beginnt eine Buchhändlerlehre in Bonn, bricht ab, da er zum Arbeitsdienst gezwungen wird, beginnt ein Studium in Köln, wird in die Wehrmacht gepresst, kurze US-Gefangenschaft 1945. Dann Gelegenheitsjobs, seine Frau Annemarie trägt als Lehrerin die Last, die fünfköpfige Familie durchzubringen.
Seine ersten Kurzgeschichten und Erzählungen gehören zur sogenannten „Trümmerliteratur“, sie sind aus dem unmittelbaren Erleben heraus geschrieben, realistisch, aber handwerklich bieder. Die Titel aus dieser Zeit, die lesenswert geblieben sind, wie „Wanderer, kommst du nach Spa“, „Haus ohne Hüter“ und „Das Brot der frühen Jahre“, vermitteln den Eindruck, das kleinbürgerliche Milieu der Nachkriegsjahre sei Bölls Horizont, über den er nicht hinausblicken wollte. Erst in den 60er Jahren nimmt er auch literarisch ein zweites gesellschaftliches Feld in Angriff, die „Bonner Republik“ aus rheinischem Kapitalismus und dem offiziellen katholischen Leben im Rheinland. Er wird zu dem Schriftsteller, der dann mit großer moralischer Emphase die Heuchelei, die Verlogenheit, den „Klüngel“ und die Haltung des gegenseitigen Händewaschens beschreibt. Die Romane dieser Zeit seien genannt: „Ansichten eines Clowns“ und „Ende einer Dienstfahrt“. Spätestens mit diesen Werken wird deutlich, dass Böll über das Moralisieren, über die Empörung und die Betroffenheit nicht hinauskommt und auch nicht kommen will. Sein späteres Engagement für „verfolgte“ Schriftsteller aus der Sowjetunion wie Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn war weniger seinem latenten Antikommunismus geschuldet, sondern vielmehr seinem unkritischen Blick auf politische Verhältnisse und Machenschaften.
Literarisch wird sein Schreiben schwächer und geschwätziger, der 1971 erschienene Roman „Gruppenbild mit Dame“ ist sein umfangreichster, aber larmoyant, formal uneinheitlich und sprachlich holprig, so eine vielfach geäußerte Kritik. Wer sich auch noch die Verfilmung mit Romy Schneider in der Hauptrolle antut, versteht noch weniger, warum er einen solchen Erfolg hatte. Seine Kritik am Katholizismus ging über die berechtigte Kritik an der Kirchenpraxis und dem Gebaren von Würdenträgern nicht hinaus, die Religion selbst blieb außen vor, für mögliche Spiritualität hatte er kein Gespür und deshalb auch keinen literarischen Ausdruck. Die vermiefte und vermuffte Republik Adenauers, Erhards und Globkes verachtete er zwar, aber über die Beschreibung von Widerwärtigkeit, Korruption und Geschleime kam er nicht hinaus.
Wie viele der damals so genannten „Linksintellektuellen“ ließ er sich vor den SPD-Karren spannen, blieb der Partei jedoch fern. Öffentlich engagierte er sich in den 70er Jahren im nationalen und internationalen PEN-Club, in diese Zeit (1972) fällt auch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises
und, durch eigene Erfahrungen und Drangsalierungen der politischen Polizei und die mediale Hetze der Springer-Presse getroffen, gelingt ihm noch einmal ein lesenswerter Text, nämlich „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Danach wird seine literarische Produktion allmählich weniger, die beiden letzten großen Texte „Fürsorgliche Belagerung“ und „Frauen vor Flusslandschaft“ sind zwar noch lieferbar, aber nicht unbedingt lesenswert.
Zu seiner persönlichen Haltung, gespeist aus der Bergpredigt, gehört seine aktive Beteiligung an der Friedensbewegung der 80er Jahre mit Reden und Artikeln und als Sitzblockierer in Mutlangen vor einem Raketenstützpunkt. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich gerne an Bölls stille, wohlwollende Unterstützung einer örtlichen Friedensgruppe an seinem damaligen Wohnort zwischen Köln und Bonn.